Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

384 Das Deuische Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 11.) 
(Widerspruch bei den Sozialdemokraten.) Nun, Sie haben ja schon manches 
Dogma aufgegeben. Das Anwachsen der Sozialdemokratie ist erklärlich, 
wenn man bedenkt, daß Deutschland zu einem Industriestaat ersten Ranges 
geworden ist. Dadurch ist eine große Anzahl Arbeiter geschaffen worden, 
die es früher nicht gab, und sie wenden sich zunächst der Partei zu, die 
die größten Versprechungen macht. Ich verkenne auch nicht, daß das 
Bürgertum in sozialen Fragen zu lau gewesen ist, aber in Bürger- 
kreisen wächst die soziale Erkenntnis mehr und mehr und wächst die Er- 
kenntnis, daß man sich der Arbeiter mehr und mehr annehmen müssse. 
Die Sozialdemokratie ist die reine Klassenpartei geworden, und das ist 
der Fehler, denn dadurch kann sie nicht andere Volksschichten als die 
arbeitenden an sich fesseln. Wir müssen Kompromisse schließen, weil wir 
nicht sehr homogene Massen von Wählern haben. Wir müssen ausgleichend 
wirken; das ist unsere Schwäche, aber auch unsere Bedeutung, weil wir 
dadurch eine Versöhnung zwischen den verschiedenen Interessentengruppen 
schaffen. (Sehr richtig! links.) Der Vorwurf, daß wir die Politik des 
Evangelischen Bundes trieben, ist nicht richtig. Wir sind keine konfessionelle 
Partei. Daß wir aber ein großes Stück Weg zusammengehen mit dem 
Evangelischen Bunde, ist natürlich, weil wir ebenso wie dieser das Zentrum 
bekämpfen. Aber nicht wahr ist es, daß wir den katholischen Volksteil 
bekämpfen; uns ist die konfessionelle Stellung unserer Mitglieder gleich. 
Wir haben Katholiken, Evangelische und Andersgläubige in unseren Reihen. 
Herr Gröber hat heute das Gegenteil beweisen wollen, aber daß dreizehn- 
und vierzehnjährige Mädchen keine zugkräftigen Zeugen sind, das wird er 
doch selbst nicht leugnen. 
Der Abg. Scheidemann hat Angriffe gegen den Zentralverband 
Deutscher Industrieller und den Hansabund gerichtet. Ich verstehe das 
nicht. Er ist für die Organisationen, für alle möglichen Gruppen. Ich 
stimme ihm vollkommen zu, daß das nötig ist. Warum sollen dann nicht 
auch die Industriellen sich zusammenschließen? Herr Scheidemann hat 
aber auch gegen uns den Vorwurf gerichtet, wir wären käuflich für diese 
Industriellenverbände. Dagegen müssen wir protestieren. Zur Charak-- 
teristik dieser Vorwürfe fehlen mir die Ausdrücke und sie fallen auf die 
Angreifenden selbst zurück. (Lebhafte Zustimmung.) Wie können sie auch 
diese Angriffe gegen uns richten? Sind wir etwa einseitige Vertreter der 
Großindustriellen? Aber wir erkennen allerdings die Notwendigkeit dieser 
Großindustrie an und verlangen ihren Schutz, denn sie hat viel für unser 
Vaterland geleistet. Unser Unternehmertum hat uns die ausländischen 
Märkte erobert und ohne dieses Unternehmertum hätten wir nicht die 
Sozialpolitik machen können. Wir verlangen auch noch für die Zukunft 
eine kräftige Fortführung der Sozialpolitik, um die Unzufriedenheit zu 
mildern, denn davon hat nur die Sozialdemokratie Nutzen. Neben der 
Fortführung der Sozialpolitik verlangen wir auch eine Reform des preu- 
ßischen Wahlrechts. Wir dürfen diese Frage nicht allein dem preußischen 
Abgeordnetenhause überlassen, denn es ist eine wichtige Frage für ganz 
Deutschland. Es ist von manchen Seiten bestritten, daß der Reichstag 
hier mitreden dürfe, aber die mecklenburgische Regierung hat diesen Stand- 
punkt gestern aufgegeben. (Sehr richtig! links.) Die preußische Wahlreform 
muß befriedigend gelöst werden, wenn wir nicht schweren Zeiten entgegen- 
sehen wollen. Ich möchte die Regierung aber warnen, nur eine Schein- 
reform einhubringen Es muß auf jeden Fall eine Reform durchgeführt 
werden und die Regierung kommt nicht darum, dazu Stellung zu nehmen. 
(Sehr richtig! links.) Zum Schlusse komme ich auf die Ostmarkenfrage. 
Freiherr v. Hertling hat unsere Polenpolitik für zwecklos gehalten. Wir 
 
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.