400 NMes Veutsche Reich und seine eintelnen Glieder. (Dezember 14./15.)
lage für die kulturelle und wirtschaftliche Entwickelung der Arbeiterschaft
ewesen ist. Auf dem Boden des § 152 sind die Arbeiter dazu gelangt,
haa gewerkschaftlich zu organisieren. Unter der schrankenlosen Freiheit, die
dieser Paragraph bietet, haben sich ihre Organisationen zu einer Macht
entwickelt, die sich nie herausgebildet hätte, wenn von vornherein regle-
mentarische gesetzliche Bestimmungen geschaffen worden wären. Das Er-
gebnis dieser Betrachtungen ist, daß es im Interesse aller nicht richtig ist,
schon jetzt, wie Herr Naumann vorschlägt, grundsätzlich den Boden der
Freiheit des § 152 zu verlassen und an seine Stelle ein reglementarisches
Gesetz treten zu lassen, das Arbeitgeber und Arbeitnehmer in der freien
Betätigung innerhalb ihrer wirtschaftlichen Kämpfe einschränkt. Ich habe
ja gestern ausdrücklich zugegeben, daß diese Koalitionsfreiheit auch erhebliche
Mißstände zeitigt und gezeitigt hat; aber wenn auch ein findiger Jurist
die Fähigkeit hätte, die Fälle festzustellen, in denen solche Mißbräuche
strafrechtlich geahndet werden sollen, so bliebe immer noch die Schwierig-
keit der Feststellung, wer denn eigentlich dafür bestraft werden soll. Ich
habe anerkannt, daß sich die Verhältnisse seit 1869 erheblich geändert haben.
Ich bin aber im Zweifel, ob heute der Zeitpunkt gekommen ist, um in eine
völlig grundstürzende Aenderung unserer Auffassung über die Koalitions-
freiheit einzutreten oder nicht. Ich habe aber auch gestern weitergehend
gesagt, trotz dieser grundsätzlichen Bedenken will ich gern die Lage prüfen,
ob überhaupt zurzeit die Einrichtung von Zwangsarbeitsnachweisen auf
paritätischer und öffentlicher Grundlage am Platze ist.
Zu einem Zwange ist der Zeitpunkt noch nicht gekommen. Wir
würden vor Aufgaben stehen, die wir tatsächlich zu lösen außerstande sind.
Ich habe mich gegen den Gedanken des paritätischen Arbeitsnachweises auf
öffentlicher Grundlage trotz der Bedenken, die ich ausgesprochen habe, nicht
ablehnend verhalten. Ich habe nur gesagt: Wir können ihn heute nicht
zwangsweise einführen. Aber wir wollen uns bemühen, ihm allmählich
mehr und mehr Boden zu schaffen, nicht allein durch eine Förderung der
Propaganda des Verbandes deutscher Arbeitsnachweise, sondern auch auf
dem Wege der Gesetzgebung, insoweit man auf diesem Wege indirekt die
Beseitigung anderer Arbeitsnachweise und die Konsolidierung und Ver-
mehrung der paritätischen Arbeitsnachweise erreichen kann. Ich glaube,
das Programm, das ich Ihnen da entwickelt habe, ist doch wohl nicht so
ärmlich, nicht so unfruchtbar und nicht so absolut negativ, wie es der Ab-
geordnete Naumann vorhin darzustellen beliebt hat. (Sehr wahr! rechts.)
Aber nun möchte ich auf eines aufmerksam machen.
Ich habe nach dem, was gestern und auch heute zum Teil gesagt
ist, die Empfindung, daß wir auf wirtschaftlichem und sohlalem Gebiete
einen erheblichen Schritt vorwärts gekommen sind, und zwar deswegen,
weil bisher noch nicht mit dieser Entschiedenheit von seiten sämtlicher
Arbeitervertreter der Wunsch ausgesprochen ist, friedlich und ruhig mit
den Arbeitgehern ihre Angelegenheiten zu regeln. Das ist etwas wert,
mehr wert, als ein halbes Dutzend sozialpolitischer Gesetze. Denn die
Lösung liegt nicht darin, daß wir Gesetze verabschieden, Aerder darin,
daß wir versuchen, die Kluft zu überbrücken, die — ich will nicht die
Schuldfrage untersuchen — zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern be-
steht, eine Kluft, deren Beseitigung allen Parteien dieses Hauses und den
verbündeten Regierungen gleichmäßig am Herzen liegen muß, eine Kluft,
die uns heute große und wertvolle Teile unserer Volkskraft von der ge-
meinsamen Richtung unseres Strebens ablenkt. Aber ein früherer Redner
hat gesagt, man muß verlangen, daß überall mit einwandfreien Waffen
gekämpft wird. Ich frage Sie: Ist das von seiten der Arbeiter gegenüber