Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

Das NBeutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 14./15.) 401 
den Arbeitgebern immer geschehen? Würden Sie alle die schweren Be- 
schuldigungen aufrecht erhalten, die Sie erhoben haben gegen die Zechen- 
verwaltungen aus Anlaß des Unglücks in Radbod? Würden Sie, wenn 
Sie mit mir unter vier Augen wären, alle die Beschuldigungen aufrecht 
erhalten wollen, die der Abgeordnete Hue mir und der preußischen Berg- 
werksverwaltung im vergangenen Jahre hier im Reichstage gemacht hat? 
(Abg. Hue: Warum haben Sie den Beamten die Aussage verweigert?) 
Nein, meine Herren, das würden Sie nicht tun! Ich habe zu viel mit 
Arbeitern im Leben verhandelt, um nicht zu wissen, daß Sie einsichtiger 
sind, als sie gelegentlich gezwungen sind, sich im öffentlichen Leben zu 
geben. Wenn wir überhaupt zum Ziel kommen wollen, dann helfen nicht 
Bestimmungen, die ein paritätisches gemeinschaftliches Arbeiten vorschreiben, 
sondern dann können uns nur Gesinnungen auf beiden Seiten helfen, die 
ein paritätisches und gemeinschaftliches Arbeiten ehrlich anstreben. (Leb- 
hafte Zustimmung.) Und dieses erreichen wir nicht, wenn immer und 
immer wieder einseitig hier die Interessen der Arbeiter vertreten werden 
— das ist ihr gutes Recht — aber die Schuld an allem, was passiert, 
einseitig auf die Schultern der Arbeitgeber gelegt wird, ohne daß man 
sich daran erinnert, daß auf der anderen Seite manches bittere Wort fällt 
und manches geschieht, was die Arbeitgeber schwer zu kränken und zu ver- 
letzen und mit Besorgnis zu erfüllen geeignet war. (Sehr gutl) Das 
wollte ich Ihnen sagen. Und wenn der Abgeordnete Naumann der Mei- 
nung gewesen ist, daß wir in Preußen nicht in der Lage wären, Parität 
zu üben, so kann ich Ihnen nur sagen: ich habe den Eindruck, daß, sowie 
sozialpolitische Fragen kommen, auch der auf Grund des allgemeinen 
Wahlrechts gewählte Reichstag ebensowenig in der Lage ist, Parität zu 
üben, denn die Parität wird nicht geübt gegenüber dem Unternehmer. 
(Zustimmung rechts. Lebhafter Widerspruch der Sozialdemokraten.) 
Im weiteren Verlauf der Debatte kommt Abg. Sachse (Soz.) auf 
das Grubenunglück von Radbod zurück, dessen Ursachen nicht gründlich 
genug erforscht werden konnten, weil der damalige preußische Handels- 
minister Delbrück seinen Beamten verboten hatte, vor Gericht auszusagen, 
und weil moan die Leichen nicht schnell genug geborgen hat. Die Berg- 
arbeiter haben zum Teil wenigstens sich der Hoffnung hingegeben, der 
Reichstag würde zum mindesten mit dem Zwangsarbeitsnachweise jetzt ein 
Ende machen und den paritätischen Nachweis einführen. Aber wenn Sie 
die gestrige Rede des Staatssekretärs lesen, so werden Sie schwer enttäuscht 
sein und mancher Fluch wird von Ihren Lippen kommen. (Lebhafte Zu- 
stimmung bei den Sozialdemokraten.) Ich gebe zu, daß heute der Staats- 
sekretär milder gesprochen hat, aber warum tat er das nicht schon gestern? 
Tat er es etwa deshalb erst heute, weil er jetzt gesehen hat, daß nicht nur 
die Sozialdemokratie, sondern auch die übrigen Parteien Mißtrauen gegen 
die Zechenherren hegen? Der Staatssekretär hat heute ausgedrückt, daß 
auch sein Ideal der paritätische Arbeitsnachweis ist. Ich bitte ihn aber 
nochmals, die Sache nicht auf die lange Bank zu schieben. Weiterhin 
stelle ich fest, daß der Abgeordnete v. Dirksen das Versprechen, das er im 
Namen der Zechenverwaltung in der vorigen Session bei der Beratung 
über die schwarzen Listen gegeben hat, das dahin ging, daß kein Arbeiter 
in Zukunft ohne sein Wissen und ohne seinen Willen in die schwarzen 
Listen kommen solle, nicht gehalten hat. Diese Verhandlungen hier werden 
die Arbeiter nicht befriedigen. Man tut uns unrecht, wenn man es so 
darstellt, als ob wir es sind, die das Feuer angeblasen haben. Wenn es 
gelingt, den Streik zu verhindern, so haben Sie es uns zu verdanken. 
Aber der Kampf kommt, er kommt, wenn Sie nicht Hilfe schaffen, wenn 
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