Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

424 Bie Sterreichisch-ungarische Msnarchie. (Juli 23.) 
Das Abgeordnetenhaus ermächtigte Justh sodann, die nächster Tage hier 
eintreffende türkische Sondergesandtschaft als Gäste des ungarischen Par- 
laments begrüßen und bewirten zu dürfen. Im weiteren Verlauf der 
wieder öffentlich gewordenen Sitzung überreichte Wekerle mit kurzen Worten 
ein Handschreiben des Königs, worin die Wiederernennung des Kabinetts 
dem Hause mitgeteilt wird. Im Namen der Unabhängigkeitspartei be- 
antragte Bakonyi, daß die Wiederernennung des Kabinetts zur Kenntnis 
genommen werde, doch solle das Haus aussprechen, daß es im Herbst eine 
dem Mehrheitsgrundsatz entsprechende Lösung der Krise wünsche. Im 
Namen der Verfassungspartei stimmte Szell diesem Antrag zu, betonte 
jedoch, daß er unter „Berücksichtigung des Mehrheitsgrundsatzes“ nicht die 
Uebertragung der Geschäfte an die Unabhängigkeitspartei verstehe, da den 
verfassungsmäßigen Entschließungen des Königs nicht vorgegriffen werden 
dürfe und auch die Bildung anderer Mehrheiten möglich sei. Eine ähn- 
liche Erklärung gab im Namen der Volkspartei Molnar ab. Die Redner 
der oppositionellen Linken erklärten, daß sie zur Regierung kein Ver- 
trauen hätten. 
23. Juli. In der „Neuen Freien Presse“ wird die Rede 
Sir Edward Greys einer sachlichen Kritik unterzogen. 
Der Grundfehler der englischen Politik habe darin bestanden, daß 
sie die Annexionsangelegenheit mit ihrer Einkreisungspolitik gegen Deutsch- 
land in Verbindung gebracht habe. Nach der Ansicht des Blattes steht 
auch das Revaler Programm, das eine Aenderung des Berliner Programms 
von der Pforte und andern Mächten erzwingen wollte, im Widerspruch 
mit Greys Grundsatz, daß Veränderungen des Berliner Vertrags nur mit 
Zustimmung aller Unterzeichner zulässig seien. Im weitern sucht die „Neue 
Freie Presse“ nachzuweisen, daß der von Grey zitierte Brief Karolyis an 
Gladstone nur eine Höflichkeit gewesen sei, die Gladstone ermöglichen sollte, 
nach seinem heftigen Ausfall gegen Oesterreich--Ungarn in der vorauf- 
gegangenen Wahlkampagne, die ihn wieder zur Ministerpräsidentschaft er- 
hob, wieder mit Karolyi in Verkehr zu treten. 
Das „Fremdenblatt“ schreibt über die Deutung, die Sir 
Edward Grey dem Brief Karolyis gab, als ob Oesterreich-Ungarn 
auf die Annexion Bosniens Verzicht geleistet hätte: 
„Die Erklärung unseres Botschafters, worin dieser die Meinung 
zurückwies, als ob unsere Monarchie den Wunsch hegte, über die im Ber- 
liner Vertrag festgesetzten Rechte hinauszugehen, wurde überall und auch 
im englischen Parlament im Sinne einer Zurückweisung der damals herr- 
schenden Annahme verstanden, daß Oesterreich-Ungarn beabsichtige, über 
die ihm zugewiesenen Grenzen hinaus militärisch vorzudringen und neue 
territoriale Erwerbungen einzuleiten. Selbst jene Kommentare aus der 
damaligen Zeit, die Gladstones Entschuldigung als in Austausch gegen 
eine politische Verzichterklärung Oesterreich-Ungarns geleistet auffaßten, 
lassen deutlich erkennen, daß Karolyis vermeintliche Konzession auf den 
sagenhaften Vormarsch nach Salonik bezogen wurde, nicht aber auf die 
Annexion. Was fast gleich nach dem Berliner Kongreß von Karolyi aus- 
gesprochen und von Gladstone mit voller Loyalität ausgenommen wurde, 
wurde später durch die Balkanproklamation Kalnoky--Tisza bestätigt. Das- 
selbe Programm wurde im Oktober des vorigen Jahres proklamiert und 
besonders scharf dadurch gekennzeichnet, daß wir gleichzeitig mit der Annexion 
Bosniens auf unsere Rechte im Sandschak verzichteten. In jenem histo-
	        
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