Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

Das Dentsche Reih und seine eintelnen Glieder. (Januar 25./26.) 33 
einflußreichste und größte Teil des Deutschen Reiches. Was dem Deutschen 
im Reiche und was ihm in Preußen an Gutem oder Schlechtem angetan 
wird, das empfindet ein und dieselbe Person. (Sehr wahr! links.) Wir 
haben nicht zwei Leiber, einen Reichs-Leib und einen preußischen Leib 
(Heiterkeit), sondern einen unteilbaren. Darum muß man Preußen und 
das Reich in einen gewissen Gleichklang bringen. Ich verkenne die un- 
geheuren Fortschritte Preußens nicht, aber auf einem Gebiet ist Preußen 
vollständig rückständig geblieben, auf dem Gebiete des Liberalismus, auf 
dem Gebiete der Forderungen, die eine Bevölkerung heutzutage mit vollem 
Recht an den Staat und die Regierung stellen kann. (Sehr wahrl links.) 
Die Art der Regierung, die Art der Gesetzgebung und Verwaltung hängt 
aufs engste mit der Zusammensetzung der Volksvertretung zusammen. Das 
außerordentlich wichtige und notwendige Gesetz über die Berufsvereine 
wurde im Reichstag abgelehnt, weil einzelne Bestimmungen, an denen die 
Regierung festhielt, der Mehrheit des Reichstages absolut unannehmbar 
erschienen. Graf Posadowsky hat es damals sehr deutlich zum Ausdruck 
gebracht, daß diese Bestimmungen auf preußische Veranlassung in das 
Gesetz hineingekommen seien, und daß Preußen seine Zustimmung zu dem 
Gesetze von ihrer Annahme abhängig mache. Schon Windthorst hat daher 
von der Unmöglichkeit gesprochen, dauernd verschiedene Wahlrechte in 
Preußen und in Deutschland zu erhalten. Herr v. Puttkamer, auf 
dessen Autorität (nach rechts) Sie gewiß sehr viel geben, hat erklärt: Die 
Divergenz zwischen Reichstagswahlrecht und preußischem Wahlrecht wird 
sich wohl nicht mehr allzulange halten lassen. Die Herren Konservativen 
möchten allerdings lieber das Reichstagswahlrecht nach dem Mufster des 
preußischen ändern, als umgekehrt, aber das geht nicht, weil dazu die 
Zustimmung des Reiches nie zu erlangen wäre. In Süddeutschland hat 
die Erklärung des Fürsten Bülow zur Wahlreform große Erregung hervor- 
gerufen. Sie sagen freilich: Was geht denn die Süddeutschen Preußen 
an? (Sehr wahr! rechts.) Wir wollen in unserm eigenen Hause Herr 
bleiben und tun, was uns beliebt. (Sehr richtig! rechts.) Aber darauf 
hat der Präsident der württembergischen Kammer Herr v. Payer mit Recht 
erwidert, daß er als Deutscher allerdings außerordentlich stark daran in- 
teressiert sei, ob ein gutes oder ein schlechtes Wahlrecht in Preußen herrscht. 
Deutschland hat ein Recht darauf, die Entwickelung seiner Einzelstaaten zu 
verfolgen und ich glaube, daß es zur Beruhigung des Reiches dienen würde, 
wenn in dieser Beziehung Homogenität geschaffen würde. (Sehr richtig! 
links.) Ich bin absolut nicht zentralistisch gesinnt, ich bin ein überzeugter und 
ehrlicher Föderalist, weil ich glaube, daß das Maß von äußerer Einigkeit, das 
wir erreicht haben, für lange Zeit das einzig Mögliche für den deutschen Volks- 
charakter sein wird. Aber in Bezug auf das Wahlrecht müssen Preußen und 
die Einzelstaaten sich dem Reichsgedanken um so mehr unterordnen, als 
das Reichstagswahlrecht in Preußen selbst immer mehr Anhänger findet. 
Man hat behauptet, daß durch die von uns geforderte Wahlrechts- 
reform die Thronrechte geschmälert und gefährdet werden könnten. Das 
kann ich einfach nicht verstehen. Die Rechte der Krone sind in der Ver- 
fassung festgelegt und werden durch eine Wahlreform weder vermehrt noch 
geschmälert. (Sehr wahr! links.) Gesichert werden aber die Kronrechte 
am besten dadurch, daß man ein zufriedenes Volk schafft und die noch 
unerfüllten Zusagen einlöst. (Erneute Zustimmung links.) Ich möchte fast 
glauben, es liegt hier eine Verwechselung zugrunde, eine Verwechselung 
der Machtstellung der Krone mit der Machtstellung gewisser Parteien (sehr 
richtig! links), die einen Anspruch auf die Leitung, Führung und Be- 
einflussung unserer Regierung erheben. (Lebhafte Zustimmung links.)
	        
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