506 Frankreich. (Juli 12.)
12. Juli. In der Kammer beantwortet der Ministerpräfident
Clemenceau die Interpellation über die allgemeine Politik der
Regierung.
Er weist zunächst den Vorwurf der Nationalisten zurück, daß die
Politik der Regierung im Lande Unruhe und Unzufriedenheit erzeuge.
Der Nationalismus verwechsle diese Unruhe mit der bei dem republika-
nischen System infolge seiner eigenen Grundsätze im unaufhörlichen Flusse
befindlichen Bewegung des sozialen und politischen Fortschritts. Auf der-
selben Verkennung der politischen Realitäten beruhe der Vorwurf der Zu-
sammenhanglosigkeit, den man der Politik der Regierung mache. Auch die
parlamentarische Arbeit der Volksvertreter sei ihres Lohnes wert. Darum
sei es unberechtigt, die Kammer wegen der Erhöhung der Diäten auf
15000 Franken anzugreifen. Der Ministerpräsident verweist auf die Lage
der Dinge unter der Monarchie und wendet sich dann gegen die Kritik
der Sozialisten, indem er zunächst auf ihren Vorwurf, der Regierung durch
seine Politik die Zuneigung und die Unterstützung der Reaktionäre er-
worben zu haben, den Gegenbeweis führte, daß die Rechte vielmehr bei
ewissen Sozialisten in großer Gunst gestanden habe, namentlich im Wahl-
ampf. Die Sozialisten unterbrachen diese Ausführungen mit anhaltendem
Lärmen und Zwischenrufen, so daß der Redner außerstande war fort-
zufahren und die Tribüne verließ. Auf Ersuchen des Vorsitzenden und
unter dem Beifall des Hauses kehrte Clemenceau dann auf die Tribüne
zurück und konnte seine Rede bei größerer Ruhe zu Ende führen. Er be-
leuchtete nacheinander das Verhalten der Regierung gegen die Arbeiter in
den Ausständen der letzten Jahre sowie ihre Sozial- und Reformpolitik
an ihrem gesetzgeberischen Werk, das namentlich durch die Einführung der
Sonntagsruhe, die Annahme der Einkommensteuervorlage durch die Kammer,
die Verstaatlichung der Westbahn als den Anfang weiterer Verstaatlichungen
gekennzeichnet werde. Was die Altersversorgung der Arbeiter angehe, so
werde sie noch vor Ablauf der Legislaturperiode ebenfalls durch das Gesetz
geregelt oder die Regierung werde nicht mehr am Ruder sein; denn zur
Erlangung der finanziellen Mittel für die Durchführung dieses Gesetzes,
die durch die Besitzsteuer auf das Vermögen aufgebracht werden müßten,
werde die Regierung die Vertrauensfrage stellen. Der Ministerpräsident
stellte weiter eine Reform der innern Verwaltung in Aussicht, woran eine
interministerielle Kommission eifrig arbeite. Im Anschluß daran verhieß
er eine Wahlreform und wandte sich dann in langer Polemik gegen Jaures,
um ihm aus seiner Unterstützung des Kabinetts Combes gegenüber seiner
Bekämpfung des gegenwärtigen Kabinetts, aus seiner Verteidigung des
Satzes von der Teilnahme der Sozialisten an einer bürgerlichen Regierung
auf dem internationalen Sozialistenkongreß in Amsterdam und aus seiner
Unterwerfung unter den gegenteiligen Willen der revolutionären Richtung
zu beweisen, daß gerade er, Jaures, die Planlosigkeit und den Widerspruch
zwischen politischer Ueberzeugung und politischer Tat verkörpere. Für die
Regierung, so schließt der Redner, sei die ganze Frage die, zu wissen, ob
durch die Republik ein Stand der Dinge erreicht worden sei, der sich in
Gesetzmäßigkeit weiter entwickeln könne. Jaures aber mißbillige alle Kriege
außer dem einen, dem Bürgerkrieg. Die republikanische Mehrheit werde
den Wählern zeigen, mit welchen Hindernissen sie zu kämpfen gehabt und
was sie dennoch vollbracht habe. Ihn, Clemenceau, selbst habe seine Ver-
gangenheit, seine Erinnerung an die Kämpfe, die er einst gegen die Re-
gierung angeführt habe, belehrt, was er, selbst ans Ruder gekommen, habe
tun müssen. Er habe begriffen, daß er manchmal gegen die Männer un-