Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

508 Fra#nkreick. (Juli 21. 22.) 
Standpunkt des Kritikers ein, indem er in einer längern klaren und im 
allgemeinen maßvollen Rede, der das Haus gespannt zuhörte, die Bedürf- 
nisse einer zeitgerechten Marine klarlegte. Er zeigte die im Ausbau der 
Flotte begangenen Fehler: daß man zu wenig Gewicht auf die artilleristische 
Ausbildung gelegt und dafür vom Parlament zu wenig Gelder verlangt 
habe; daß man sich zu viel vom Torpedoboot und vom Panzerkreuzer 
versprochen und dafür die Hochseeflotte und die Schlachtschiffe vernachlässigt 
habe. Delcassé steigerte im Laufe seiner Rede die Angriffe auf die Marine- 
verwaltung und die Regierung. In der Ausrüstung der Schiffe habe man 
mit den Kesseln große Fehler begangen. Die Häfen entbehrten der Pro- 
visionen, die man voraussetze. Der Redner bezieht sich auf Erfahrungen 
in Brest und Toulon. Man baue kläglich, und in den drei Jahren, seit 
von Marinereformen die Rede sei, seien noch keine Fortschritte gemacht 
worden. Unnötigerweise beschuldige man die Arbeiter wegen Verzögerung 
im Schiffbau. Alte Maschinen, die unbrauchbar seien, wären häufig an- 
zutreffen. Die Rede gipfelte in dem Worte, daß die Regierung ihrer 
Aufgabe nicht gewachsen gewesen sei. Es sei an der Kammes, jetzt ihre 
Pflicht zu tun. Delcassés Rede wurde von der Rechten und von den Ver- 
einigten Sozialisten mit sehr lebhaftem Beifall aufgenommen. 
Nach der Rede Delcassés folgte eine oppositionelle Rede des Ab- 
geordneten Delahaye von der Rechten, worauf Minister Thomson einige 
Angaben Delcassés berichtigte. Der Ministerpräsident Clemenceau ent- 
fesselte darauf durch eine Zwischenbemerkung gegen Delcassé ein heftiges 
Rededuell zwischen beiden, wodurch das Haus in die höchste Erregung ver- 
setzt wurde. Delcassét warf Clemenceau vor, 1904 bei der Marinekom-- 
mission gewirkt zu haben, ohne an eine Abhilfe zu denken. „Damals 
waren Sie Minister!“ rief ihm Clemenceau zu. Delcassé, auf die Tribüne 
steigend, erneuerte leidenschaftliche Angriffe auf den Ministerpräsidenten, 
der dann unter höchster Unruhe des Hauses die Angelegenheit von 1905 
und von Algeciras wieder hervorbrachte und Delcassé zurief: „Ich habe 
Frankreich nicht gedemütigt, wie Siel!“ 
Nach einer voraufgegangenen Erklärung Clemenceaus, daß das 
Ministerium sich mit dem Marineminister solidarisch erkläre, verlas der 
Präsident Brisson mehrere Tagesordnungen, wovon eine von Jourde, die 
der Regierung das Vertrauen der Kammer aussprach, zur Abstimmung kam. 
Der Antrag Jourde wurde mit 212 Stimmen gegen 176 von der 
büsar abgelehnt und damit Clemenceau und die bisherige Regierung 
gestürzt. 
Nachdem das Ergebnis der Abstimmung unter betäubendem Beifall- 
klatschen bekannt geworden war, verließen die gestürzten Minister die 
Kammer und begaben sich nach dem Elysee, worauf die Kammer sich bis 
Donnerstag den 22. Juli vertagte. 
Damit hat das Ministerium Clemenceau, das am 5. No- 
vember 1906 die Geschäfte übernommen hatte, sein Ende erreicht. 
21. Juli. Die französische Prefse behandelt den plötzlichen 
Sturz des Ministeriums Clemenceau als einen persönlichen Zufall, 
den der Ministerpräfident durch sein schroffes Auftreten selber ver- 
schuldet habe. Die Rente steigt von 67 auf 82. 
22. Juli. Da die Ministerkrifis noch nicht erledigt ist, ver- 
tagt sich die Kammer weiter bis zum 27. Juli. 
 
	        
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