Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

688 Mebersicht über die yolitische Entwicelung des Jahres 1909. 
Für die innerpolitische Entwickelung des Deutschen Reichs 
brachte das Jahr 1909 eine schwere Krifis, die mit dem Rück- 
tritt des Fürsten Bülow vom Reichskanzleramt (14. Juli) ihren 
Höhepunkt erreichte und eine neue Parteigruppierung vorbereitete. 
Es zeigte sich, daß der durch die Reichstagsauflösung im Dezember 
1906 geschaffene „Block“ der Konservativen und Liberalen die Be- 
lastungsprobe nicht aushielt, die das Steuerprogramm der Re- 
gierung zur Sanierung der Reichsfinanzen darstellte. Da der Reichs- 
kanzler auf dieses Programm als Etappe der politischen Entwickelung 
Deutschlands seinen Kurs eingestellt hatte, so blieb ihm nach seiner 
von vornherein kundgegebenen Ueberzeugung nur die Wahl, ent- 
weder ein ihm als Aequivalent von der Reichstagsmehrheit an- 
gebotenes Steuerbouquet abzulehnen und den Reichstag aufzulösen 
oder seine Aemter niederzulegen und seinen Gehilfen die Fortführung 
der Geschäfte mit der neuen Mehrheit zu überlassen. Da diese 
Alternative von den Parteien, die die neuen Finanzgesetze zustande 
brachten, bestritten wurde, so bedarf es eines kurzen Ueberblicks 
über die Hauptphasen des sich lang hinziehenden Kampfes. 
Für die Durchführung der Reichsfinanzreform hatte die 
erste Lesung im Plenum des Reichstages (19. bis 28. November 
1908) ein im Ganzen nicht ungünstiges Prognostikum ergeben, da 
die Notwendigkeit einer dauernden und gründlichen Sanierung der 
Reichsfinanzen von allen Parteien außer den Polen und Sozial- 
demokraten anerkannt wurde. Ob der Bedarf an neuen Steuern 
bei Durchführung größter Sparsamkeit 500 Millionen betrüge, wie 
die Regierung darlegte, oder mit 300 Millionen Mark gedeckt 
werden könnte, wie einige Redner behauptet hatten, konnte nur in 
der Kommission von 28 Mitgliedern festgestellt werden, die am 
2. Dezember 1908 als „Finanz= und Steuerkommission“ ihre erste 
Sitzung hielt. Es wurde allgemein anerkannt, daß der Nachweis 
eines voraussichtlichen Fehlbetrags von über 2 Milliarden für die 
fünf Jahre 1909 bis 1913 nicht zu hoch gegriffen war und daß 
als Nachwirkung der für 1907 bewilligten Teuerungszulagen und 
der Besoldungserhöhungen für 1908 sowie als gestundete Matri- 
kularbeiträge noch 242⅜% Millionen Mark hinzugerechnet werden 
müßten. Also handelte es sich bei der Finanzreform um die Be-
	        
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