Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

Das Vesigze Reich und seine einzelnen Glieder. (Februar 9.) 57 
angegriffen würde. Aber Deutschlands Vorschlag, der chinesischen Regie- 
rung die Erhöhung der Seezölle um drei Prozent zuzugestehen, habe Ende 
März 1901 die englische öffentliche Meinung so erregt, daß auch diesmal 
die Anregung ohne Folgen geblieben sei. In der „Birmingham Daily 
Mail“ dementierte aber Chamberlain von Cannes aus die ihn betreffende 
Enthüllung, und die „Kreuzzeitung“ brachte in Erinnerung, daß die Rede 
in Leicester in der deutschen Presse eine solche Beurteilung fand, daß Graf 
Bülow die Sache nicht weiter verfolgen konnte. 
9. Februgr. Abkommen mit Frankreich über Marokko. 
Der Wortlaut des in Berlin unterzeichneten Abkommens über 
Marokko ist folgender: Die Regierung der französischen Republik und die 
deutsche Reichsregierung haben, von dem gleichen Bestreben bewogen, die 
Ausführung der Akte von Algeciras zu erleichtern, vereinbart, die Trag- 
weite, die sie ihren Bestimmungen beilegen, näher zu bestimmen, in der 
Absicht, für die Zukunft jede Ursache eines Mißverständnisses zwischen ihnen 
zu vermeiden. Infolgedessen erklären die Regierung der französischen Re- 
publik in voller Hingabe an die Integrität und die Unabhängigkeit des 
scherifischen Reiches und in dem Entschluß, dort die wirtschaftliche Gleich- 
heit zu erhalten, und infolgedessen die kaufmännischen und industriellen 
Interessen Deutschlands dort nicht zu beeinträchtigen, und die deutsche 
Reichsregierung, da sie in Marokko nur wirtschaftliche Interessen verfolgt 
und anderweit anerkennt, daß die besonderen politischen Interessen Frank- 
reichs dort auch mit der Festigung der Ordnung und des Friedens im 
Innern verbunden sind, und diese Interessen nicht zu beeinträchtigen ent- 
schlossen ist: daß sie keinerlei Maßregeln verfolgen oder fördern werden, 
die geeignet wären, zu ihren Gunsten oder zugunsten irgendeiner Macht 
ein wirtschaftliches Vorzugsrecht zu schaffen, und daß sie trachten werden, 
ihre Staatsangehörigen in den Geschäften, deren Ausführung ihnen über- 
tragen werden könnte, zu gemeinschaftlichem Vorgehen zu verbinden. 
Die offiziöse „Süddeutsche Reichskorrespondenz“ bringt 
einen Kommentar zu der Abmachung, die dazu bestimmt sein soll, für 
die Zukunft deutsch-französischen Reibungen in Marokko vorzubeugen und 
ein Zusammenarbeiten der beiderseitigen Staatsangehörigen zu wirtschaft- 
lichen Zwecken zu fördern. Es heißt dann weiter: Die für Marokko be- 
stehenden internationalen Abmachungen werden durch das neue Ueber- 
einkommen nicht entkräftet: auch auf die Akte von Algeciras wurde aus- 
drücklich Bezug genommen und einer ihrer Grundsätze — Unabhängigkeit 
und Integrität Marokkos, wirtschaftliche Gleichberechtigung und offene 
Tür — wird nicht geopfert. Auch sonst wäre es verfehlt, an ein einzelnes 
deutsch-französisches Aktenstück von praktisch-geschäftlicher Tendenz große 
politische Zukunftsgedanken anzuknüpfen. Seine Geltung reicht über einen 
deutlich umgrenzten Bezirk afrikanischer Interessen nicht hinaus. Das 
Hauptverdienst wird das negative sein, Marokko als politische Streitfrage 
aus den deutsch-französischen Beziehungen auszuschalten. Unter Gesichts- 
punkten der europäischen Politik aber ist es immerhin erfreulich, daß in 
einer Zeit, wo die Großmächte mit Balkansorgen beschäftigt sind, zwischen 
Berlin und Paris ein so wesentlicher Schritt zur Beseitigung des marok- 
kanischen Interessenstreites geschehen konnte. Kurz nach dem Eintreffen 
des englischen Königspaares in Berlin ist das Abkommen Deutschlands 
mit Frankreich unterzeichnet worden. Die zeitliche Annäherung beider 
Ereignisse kann als zufällig betrachtet werden, sie weist aber darauf hin, 
daß in unserm Verhältnis zu den Westmächten gegenwärtig eine fühlbare 
Abspannung eingetreten ist. 
  
 
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.