Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Sechsundzwanzigster Jahrgang. 1910. (51)

Das Denisqhe Reich nad seine einzelnen Glieder. (Februar 10.) 113 
rakter, daß diese Mängel die Arbeit und Politik des Abgeordnetenhauses 
auf eine die niederen Stände bedrückende, einseitige und plutokratische 
Richtung bringen. Es ist so sehr Sitte geworden, Preußen als das Land 
der finstersten Reaktion hinzustellen, daß ich mich schon im voraus auf die 
Krinik freue, die mir von denen zu teil werden wird, von denen diese Be- 
hauptung aufgestellt wird. Ich fürchte sie aber nicht. Es ist notwendig, 
einer Farce, die immer wieder als ein Gespenst aus vormärzlicher Zeit 
hervorkommt und schließlich im In- und Auslande als ein lebendiges Wesen 
angesehen wird, einmal ins Gesicht zu sehen. Nicht um einen Lobeshymnus 
auf die preußischen Zustände anzustimmmen, das wäre genau so abgeschmackt, 
wie das Häufen von Schimpf und Schande, das Beschmutzen des eigenen 
Nestes, abgeschmackt und unwürdig ist. Was behauptet man nicht alles, 
um zu zeigen, daß das preußische Gesetz, das mit Ihrer Hilfe und Zu- 
stimmung gemacht worden ist, einen einseitigen, rückschrittlichen, reakrionären 
Charakter hat, den man als Signatur seines Wahlsystems bezeichnet? Die 
preußischen Finanzen beruhen, wenn man in großen Zügen spricht, 
auf den Einnahmen aus den staatlichen Betriebsverwaltungen und aus den 
staatlichen Steuern. Kein Mensch kann der preußischen Einkommensteuer 
und Vermögenssteuer vorwerfen, daß sie die Reichen zuungunsten der 
Armen bevorzugt, und noch jede Novelle, die wir neuerdings zu diesem 
Gesetz gemacht haben, hat die Tendenz weiter verfolgt, die Bemittelten zu- 
gunsten der Unbemittelten stärker heranzuziehen. Sehr demokratisch regierte 
Länder kämpfen seit Jahren, aber vergeblich, um eine solche Steuerreform. 
Gewiß, die wenigsten Menschen zahlen Steuern gern. Aber ich habe nicht 
gefunden, daß die Masse des preußischen Volkes gerade unter dieser preußischen 
Staatssteuergesetzgebung seufzt. Dagegen wird gerade die reichste Steuer- 
gesetzgebung als agrarisch gebrandmarkt, die wir in dem auf Grund des 
allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts gewählten Reichs- 
tag beschlossen haben. Ich halte diese Vorwürfe für nicht begründet, aber 
sie werden erhoben, und gerade das letzte Reichssteuergesetz hat in jenen 
Kreisen besondere Mißstimmung hervorgerufen, die jetzt für Preußen das 
Reichstagswahlrecht verlangen. Unsere Betriebsverwaltung!" Ich wüßte 
nicht, daß die Verstaatlichung der Eisenbahnen, diese für unsere gesamte 
Finanzgebarung grundlegende Maßregel, unsozial wäre. Im Gegenteil, 
die Art und Weise, wie wir mit den von Ihnen bewilligten Mitteln in 
den staatlichen Betriebsverwaltungen die Lohnfrage der Arbeiter regeln, 
wie wir in der Eisenbahnverwaltung z. B. nicht unbedeutende Aufwendungen 
machen, um die Stellung der Arbeiter über die Bezüge hinaus, die ihnen 
aus den Reichsgesetzen zustehen, zu verbessern, die Aufwendungen zur Ver- 
besserung der Wohnungsverhältnisse der minderbemittelten Beamten und 
Arbeiter — all das sind Zeichen dafür, daß das preußische Parlament seiner 
sozialen Verpflichtung sich wohl bewußt ist. Natürlich, die Sozialdemokraten 
verlangen sehr viel mehr. (Zuruf d. Sd.: Koalitionsrecht!) Aber wer sich 
genauer umsieht, wird finden, daß viele sehr gut geleitete Privatbetriebe 
in der Nachbarschaft der Staatsbetriebe gar nicht in der Lage sind, den 
Arbeitern die gleiche Lebenshaltung zu gewährleisten, wie die staatlichen. 
Ich muß noch einen weiteren hervorstechenden Zug der preußischen Gesetz- 
gebung anführen, einen grundlegenden, ich habe ihn vorhin schon in anderem 
Zusammenhange flüchtig gestreift, den Ausbau der Selbstverwaltung im 
weitesten Sinne des Wortes. Ich lege dabei nicht das Gewicht auf die 
formale Seite der Sache, ich weiß, die Liberalen haben eine ganze Reihe 
von Wünschen, wohl aber auf den materiellen Inhalt dieser Selbstver- 
waltung und da kann man ohne jede Uebertreibung sagen, daß der Schwer- 
punkt der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung des Landes in der 
Europäischer Geschichtskalender. II. 8
	        
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