126 Das NVeutsche Reich und seine einjelnen Glieder. (Februar 12.)
rechts überhaupt! Warum hat der Minister bei diesem seinem Standpunkt
in Sachen der Wahlreform die Vorlage überhaupt eingebracht? An-
scheinend wirklich nur, weil er die Thronrede mit dem Versprechen der
Wahlreform vorfand. Auf der Basis, die die Regierung vorschlägt, wird
das Wahlrechtsproblem nicht gelöst werden. Gelöst wird es aber doch ein-
mal. Die Wahlrechtsforderung wird immer lebendig bleiben, sie wird den
nächsten Wahlkampf beherrschen. Wie sich das Reichstagswahlrecht im Reiche
bewährt hat, so würde es sich auch in Preußen bewähren. Man hat doch
in Zeiten der Not immer erkannt, wie wertvoll, wie unerläßlich es ist,
daß der Staat sich auf vollberechtigte Bürger stützt, man denke an die
Freiheitskriege. Wir müssen in Preußen ein Wahlrecht bekommen, das
dem Empfinden des Volkes gerecht wird.
Ministerpräsident v. Bethmann Hollweg: Ich habe nicht die Ab-
sicht, in eine Polemik einzutreten gegen die Ausführungen des Abg.
Dr. Pachnicke, die wir soeben gehört haben. Was ich zur Wahlrechtsvorlage
zu sagen für erforderlich gehalten habe, habe ich vorgestern gesagt. Ich
muß dagegen Widerspruch erheben, daß der Abg. Dr. Pachnicke es so dar-
gestellt hat, als trete die Staatsregierung ein Rückzugsgefecht an, wenn
sie diese Vorlage vorlegt. Glauben die Herren, daß ich mich zum Spaß
hier hinstelle und eine Vorlage einbringe, die in einschneidender Art unser
Versassungswesen ändert? Ich habe vorgestern gesagt, daß die königliche
Staatsregierung mit ihrer Verantwortung hinter dieser Vorlage steht, und
ich habe Anspruch darauf, daß das für Ernst genommen wird, was ich hier
im Namen der Staatsregierung erklärte.
Abg. Malkewitz (K.): Es ist eine ständige Begleiterscheinung aller
Wahlrechtsreformen, daß, wenn man die Frage der Reform einmal an-
rührt, man fahrzehntelang an ihr herumzudoktern hat. Wir sehen das
ja an Sachsen. Wir werden weder in der Kommission noch auch später
im Plenum die für den Mittelstand unerläßlichen Bestimmungen des
geltenden Wahlrechts preisgeben. Der alte, tüchtige preußische Staat darf
nicht durch Wahlrechtsexperimente gefährdet werden.
Abg. Krause (Nl.): Das heutige Wahlrecht bietet nur einer Partei
Vorteil: den Konservativen. Eine Berufung auf die Vergangenheit hat
praktisch nicht den geringsten Wert. Die Vorschläge der Regierung wegen
der Privilegierung einzelner bestimmter Volksgruppen lassen das vermissen,
was wir als unerläßliche Vorbedingung jedes Pluralwahlrechts ansehen:
Das sozial versöhnende Moment. England hat das geheime Wahlrecht,
und es hat an Stelle der öffentlichen Wahl die geheime eingeführt, weil
die praktischen Engländer trotz ihrer Vorliebe für die öffentliche Wahl sich
sagten: Es ist das kleinere Uebel, die öffentliche Wahl preiszugeben, als
durch ihre Beibehaltung es dahin zu bringen, daß die Wähler entweder
gegen ihre Ueberzeugung oder gar nicht stimmen. Wir kommen darüber
nicht hinweg, daß wir eine Parteiregierung haben. Die Spatzen pfeifen
es von den Dächern, daß eine Bevorzugung der Konservativen im Lande
stattfindet. Eine Einseitigkeit herrscht in unserer Staatsverwaltung, wie
sie nicht einseitiger gedacht werden kann. Die konservative Strömung ist
nicht von unten heraus aus dem Volke enstanden, sondern von oben her
ins Volk hineingetragen worden.
Abg. v. Woyna (Frk.): Von vielen Seiten wird das geheime Wahl-
recht gefordert. Ein Siebentel meiner Parteifreunde ist auch dafür, aber
wir aus Hannover wollen das geheime Wahlrecht nicht; wir kennen nichts
anderes als das öffentliche Wahlrecht.
Abg. Fischbeck (Fr. Vp.): Am dringendsten ist die Abschaffung der
öffentlichen Wahl, unter der namentlich die Gewerbetreibenden leiden.