Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Sechsundzwanzigster Jahrgang. 1910. (51)

Nes Vensche Reich und seine einzelnen Glieder. (März 7.) 167 
fängnisarbeit unzulässige Konkurrenz gemacht. Typisch dafür, wie mit dem 
Handwerk umgesprungen wird, ist ein Fall, wo einem Großunternehmer, 
der hauptsächlich Heimarbeiter beschäftigte, eine große Lieferung übertragen 
wurde, während die Innungsmeister, die ihre organisierten Arbeiter und 
Gesellen hoch bezahlen und sozialpolitische Lasten tragen müssen, leer aus- 
gingen. Große Arbeiten, an denen die einzelnen Handwerker etwas ver- 
dienen können, werden in einem Lose vergeben, so daß nur Großunternehmer 
sie übernehmen können, und nur ganz geringsügige Arbeiten werden öffent- 
lich ausgeschrieben. Das schreit doch zum Himmel. Man muß dem Hand- 
werk Arbeit schaffen, aber auch lohnende Arbeit. Daran läßt es der Staat 
sehr fehlen. Der Minister muß dafür sorgen, daß seine gut gemeinten 
Erlasse auch durchgeführt werden. 
Abg. Rahardt (Fl.) klagt über zu rigorose Handhabung der Bäckerei- 
verordnung. Die fünfjährige Frist nütze nichts, sie bedeute für die Bäcker 
nichts anderes als die Hinausschiebung eines Todesurteils für einen Ver- 
brecher. Nur die Regierung kann und muß da helfen! Im Interesse der 
Hygiene sind ja scharfe Maßnahmen geboten. Aber weil die Backstuben 
nur ein paar Zentimeter zu niedrig sind, sollten Hunderte von Existenzen 
ruiniert werden! Die Hansabundsache will ich nicht vom parteipolitischen 
Standpunkt aus betrachten. Wir betrachten die Bewegung vom Zweck- 
mäßigkeits- und Nützlichkeitsstandpunkt für das Handwerk aus. Handwerk 
und Industrie haben so viele Ursachen, in bestimmten Dingen Hand in 
Hand zu gehen, daß es tatsächlich Wasser in die Spree gießen hieße, wollte 
ich das noch ausführlich darlegen. Wir stehen gemeinsam der Arbeiter- 
frage gegenüber, wir können in den Innungen nichts getrennt ausrichten. 
Wir haben gemeinsame Interessen bei allen Verkehrsfragen, in der Sozial- 
politik, die ich nicht zum Stillstand gebracht sehen möchte. Wir wollen 
den Fortgang der Sozialpolitik, freilich sollen andere Leute nicht über den 
Taler verfügen, den wir in der Tasche haben. Wer Sozialpolitik treiben 
will, soll auch selbst Opfer bringen wollen! Unmöglich kann man immer 
wieder den Arbeitgeber als Packesel ansehen, auf den alles abgeladen wird. 
Die Belastungsgrenze beim Handwerk ist längst überschritten. Zu den 
hohen Arbeiterlöhnen steht das Einkommen der kleinen Handwerker in gar 
keinem Verhältnis. Wir wollen nicht immer die Politik des verpaßten 
Anschlusses treiben. Die Beamten, denen wir bei der Gehaltsregulierung 
sehr weit entgegenkamen, sollten nun auch so verständig und, gerade heraus- 
gesagt, so anständig sein, dem Handwerker seinen Verdienst zu lassen nach 
dem Grundsatz: Leben und leben lassen! Manche, die uns bisher von der 
Linken mit Unverständnis entgegengetreten sind, fangen an, mit uns zu- 
sammen zu arbeiten. Eine Reihe von Mißverständnissen ist dadurch be- 
seitigt. Mit schönen Redensarten der Regierung können wir uns auch 
nicht mehr zufrieden geben. Heute sollen wir noch nicht einmal Einheits- 
sätze von den Behörden verlangen können. Es dient nicht der Standes- 
ehre des Handwerks, wenn man mit Portiers und Kastellanen verhandeln 
muß, um über die Preissätze der Behörden etwas erfahren zu können. 
Wir geben heute — durch die Arbeitgeber natürlich — 12:4 Millionen 
täglich für die Sozialpolitik aus. Man soll nichts übertreiben; sonst 
schlachten wir die Henne, die die goldenen Eier legt. 
Handelsminister Dr. Sydow: Ich werde es als eine der wichtigsten 
Aufgaben betrachten, dafür zu sorgen, selbständige Existenzen gerade durch 
die Förderung des Handwerks zu erhalten und zu vermehren. Von den 
Verwaltungen werden auch bei Vergebungen die Handwerker und HLand- 
werkergenossenschaften immer mehr berücksichtigt, so vor allem von der 
Militärverwaltung, die z. B. an der Lederlieferung zu 17 v. H. die Hand-
	        
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