Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Sechsundzwanzigster Jahrgang. 1910. (51)

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Sie lautet: Ist dem Herrn Reichskanzler bekannt, daß der Polizei- 
präsident von Berlin für eine zum 6. März d. J. nach dem Treptower 
Park bei Berlin einberufene öffentliche Versammlung unter freiem Himmel 
in Widerspruch zu dem 9 7 des Reichsvereinsgesetzes, der die Versagung 
der Genehmigung nur dann für zulässig erklärt, wenn Gefahr für die 
öffentliche Sicherheit zu befürchten ist, die Genehmigung verweigert hat? 
Welche Maßregeln gedenkt der Herr Reichskanzler zu ergreifen, um eine 
eraie, Beeinträchtigung des Versammlungsrechts für die Zukunft zu 
verhüten! 
Abg. Ledebour (Sd.) begründet die Interpellation. Auch in Halle, 
Kiel und Bochum sind Versammlungen unter freiem Himmel verboten 
worden. Wir beschränken uns auf Berlin, weil der Hauptschuldige an 
diesem System polizeilicher Uebergriffe — Herr v. Jagow — fortgesetzt 
mit fieberhaftem Eifer in der Presse sogenanntes Entlastungsmaterial pro- 
duziert, das aber geradezu zu seiner Ueberführung dient. Nach einer 
Kammergerichtsentscheidung sind Demonstrationen nicht rechtswidrig. Dieses 
Urteil ist doch wertvoller als die Meinung irgend eines Polizeibeamten 
in Berlin oder Posemuckel. Nirgends ist die öffentliche Sicherheit gestört 
worden, wenn sich die Polizei fernhielt. Das war ja der Zweck des Herrn 
v. Jagow, daß er am letzten Sonntag starke Unruhen, Störungen der 
Ordnung und Menschenverletzungen herbeiführen konnte. Herr v. Jagow 
mit seinem schönen Plakatstil ist nur ein Handlanger des konservativen 
Parteiregiments. Es verdient die allerschärfste Zurückweisung, daß ein von 
den Groschen der Steuerzahler besoldeter Polizeibeamter sich erlaubt, zu 
sagen, daß die politische Agitation im Parlament sich übergenug betätige. 
Das ist eine Anmaßung sondergleichen. Wir werden für das gleiche und 
freie Wahlrecht in Preußen den Kampf fortsetzen, bis wir dieses Ziel er- 
reicht haben. Sie behaupten, wir untergraben das Ansehen der Regierung. 
Das ist nicht richtig. Sie selbst bewirken diese Untergrabung dadurch, daß 
Sie solche polizeiliche Uebergriffe begehen lassen und sie decken. Sie unter- 
graben die Staatsautorität, wie etwa einzelne Monarchen durch ihr Ver- 
halten das Ansehen der Monarchie weit mehr untergragen haben, als 
irgend ein noch so heftig gegen die Monarchie redender Sozialdemokrat 
es tun könnte. Ich erinnere nur an den früheren König von Serbien, 
an den früheren König von Belgien. Die heutige Bureaukratie ist nicht 
einen Pfifferling besser als die vom Jahre 1806, die einen so schmählichen 
Zusammenbruch erlitten hat. 
Staatssekretär Delbrück: Der Vorsitzende des Aktionsausschusses 
des Verbandes der sozialdemokratischen Wahlvereine Berlins, Herr Ernst, 
und der Landtagsabgeordnete Borgmann haben beim Polizeipräsidenten 
für den 6. März mündlich die Genehmigung zur Abhaltung von Ver- 
sammlungen unter freiem Himmel und zur Veranstaltung von Aufzügen 
in Berlin nachgesucht. Der Polizeipräsident hat dieses Gesuch abgelehnt 
und dann, wie das Vereinsgesetz vorschreibt, schriftlich begründeten Bescheid 
gegeben. Für den Treptower Park, der nicht zum Bezirk des Polizei- 
präsidenten gehört, ist eine Genehmigung bei der zuständigen Ortspolizei- 
behörde nicht nachgesucht worden. Diese Ortspolizeibehörde hat die Schließung 
des Parks angeordnet, nachdem ihr bekannt wurde, daß an Stelle der ver- 
botenen Versammlung ein Spaziergang im Park stattfinden solle. Sie 
hat auch den Polizeipräsidenten um Unterstützung bei der Aufrechterhaltung 
der Ordnung gebeten. Ich habe hier lediglich die Tatsachen vorzutragen, 
die meines Wissens unbestreitbar sind und die für die weitere Beurteilung 
der Dinge nicht von übermäßiger Erheblichkeit sind. Es dreht sich um die 
Frage, ob der Polizeipräsident berechtigt war, die öffentliche Versammlung
	        
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