Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Sechsundzwanzigster Jahrgang. 1910. (51)

D#s Be#sche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 12.) 23 
obachtet, so kommt man zu dem Ergebnis, daß die die polnischen Interessen 
vertretenden Gruppen sich einig sind: Sie wollen die nationale Kultur und 
Geschichte aufrecht erhalten, das nationale und Kulturbewußtsein der pol- 
nischen Bevölkerung heben. Sie wollen das nationale Band, das die jeetzt 
getrennten Teile des ehemaligen Königreichs Polen umschließt, nicht nur 
nicht locker werden lassen, sondern immer fester schließen, und die Vertreter 
der verschiedenen Richtungen im polnischen Lager haben oft und wiederholt 
der Auffassung Ausdruck gegeben: „Es gibt kein Nationalbewußtsein ohne 
Staatsbewußtsein“, und dieses wird gepflegt mit dem Nationalbewußtsein. 
Die Kattowitzer Frage kann nur im Zusammenhang mit der ganzen Si- 
tuation beurteilt werden. Den Kommunalbehörden sind weitgehende Rechte 
übertragen, und in Zeiten so hochgehender politischer Erregung kann aller- 
dings die Regierung Wert darauf legen, daß in den städtischen Kollegien 
Männer sind, an deren zweifelloser Treue in nationaler Hinsicht kein Zweifel 
ist. Es ist darauf hingewiesen worden, daß die beiden in Frage kommenden 
Kandidaten weit davon entfernt seien, großpolnischen Bestrebungen zu hul- 
digen. Die nationalpolnische Propaganda liegt in der Hand zweier Vereine. 
Das sind die Socols und die Straczvereine. In diesen Vereinen werden 
die Bestrebungen auf Wiederherstellung Polens gepflegt. Der eine der 
beiden Herren ist ein eifriger Förderer der Socolvereine, und der andere 
ist Starost von Straczvereinen. Diese Vereine haben ihre Agitations- 
gruppen über das ganze Land verteilt, und an der Spitze der einzelnen 
Agitationsgruppen steht ein Starost. Hiernach wird wohl niemand ernstlich 
bestreiten wollen, daß die Regierung wegen der großpolnischen Bestrebungen 
dieser Herren allen Grund hatte vorzugehen. Die Polen behaupten immer, 
sie würden geknechtet, sie wären Heloten der Deutschen. Die polnischen 
Herren arbeiten viel mit der Geschichte Polens. Aber sie pflegen 130 Jahre 
zu überschlagen. Diese 130 Jahre liegen zwischen der Okkupation der pol- 
nischen Landesteile, Westpreußen und Posen, und der heutigen Zeit. Auf 
Oberschlesien brauche ich hier nicht einzugehen, denn Oberschlesien ist altes 
deutsches Land. In Westpreußen hat der deutsche Orden viel dem Un- 
glauben und der Unkultur abgerungen und für das Christentum und für 
die deutsche Kultur gewonnen. An dieser Kulturarbeit des deutschen Volkes 
in Westpreußen haben teilgenommen alle Gaue des deutschen Vaterlandes 
und alle Stände. Fürsten, Ritter, Bürger, Bauern sind hinausgezogen und 
haben in diesem Lande Denkmäler deutscher Kulturarbeit gesetzt, die heute 
noch bestehen. Auch in der Provinz Posen ist ein Teil der Kultur, namentlich 
der Städte, deutsch gewesen. Aber wie sahen diese Lande aus, als sie an 
Preußen kamen? Wüste Höfe, wüste Felder, die erkennen ließen, daß im 
Laufe der letzten Jahrzehnte eine Anarchie über das Land dahingebraust 
war und alles weggeschwemmt hatte. Und jetzt blühende Städte, gut auf- 
gebaute Dörfer, anstatt wertloser Forsten Wälder von großem Werte. In 
denselben Landen, wo sich die Mehrzahl der Bevölkerung in wirtschaftlich 
dürftiger und abhängiger Lage befand, da befindet sich heute ein Bauern- 
stand, der in guten Verhältnissen auf eigener Scholle sitzt. An Stelle öder 
Städte sehen wir blühende Städte. In diesem ganzen Lande lebt eine 
Bevölkerung, die dieselben verfassungsmäßigen Rechte genießt wie jeder 
andere Bürger des Reiches. Die preußische Verwaltung hat diesem Lande 
Gesetz und Freiheit, Kultur und Bildung gebracht. Wir haben dort einen 
wohlhabenden, gebildeten Mittelstand. Wenn dieses Land die Güter der 
Kultur, die Wohlhabenheit und die Bildung, die es dem preußischen Staate 
verdankt, dazu benutzt, Waffen zu schmieden gegen den Staat, der sein Wohl- 
täter gewesen ist, so beweist das nicht, daß Preußen die polnisch sprechenden 
Untertanen geknechtet hat, sondern es beweist, daß man in dem aufgeklärten
	        
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