Das Venische Reich und seine eintelnen Glieder. (Oktober 1.2.) 355
Zweifel gezogen und wir hatten 1890 einen Mandatsverlust von 60 Mandaten.
Seitdem sehen wir den mühsamen Kampf, wie ihn eben die Mittelparteien
kämpfen müssen, die sich wehren müssen nach rechts und links. Und doch
war die Periode dieser letzten 20 Jahre eine Periode, in der wir ehrlich
und treu festgehalten haben an unserem alten Programm. Wir wollten
sein eine nationale Partei und eine liberale Partei, die versuchte, auch in
wirtschaftlichen Fragen zu einer stärkeren Einigkeit zu kommen, und wir
wollten sein eine Partei des sozialen Fortschritts und in den immer neu
auftauchenden Fragen auch eine Partei des warmen Empfindens für die
Beschwerden des Mittelstandes und eine Partei, erfüllt von dem Kampf
um die Besserstellung unseres Bauernstandes. (Lebhafter Beifall.) So
haben wir auch in den Jahren 1903 und 1907 bei den Reichstagswahlen
Anerkennung gefunden, daß sich unsere Stimmen um Hunderttausende
vermehrten.
Das Jahr 1906 hat uns die Reichstagsauflösung gebracht.
Der Unwille des deutschen Volkes über die Zunahme des Einflusses der
Zentrumspartei war gestiegen und war die Signatur jener Periode. Als
im heißen Redekampf Dernburg mit Roeren zusammenstieß, ging ein Auf-
atmen durch die deutsche Nation, es war wie die Befreiung von einem
Druck, daß endlich ein Mann sich gefunden hatte, der in mutiger tapferer
Rede gegen diesen Zentrumseinfluß sprach, der davon sprach, daß er nicht
ruhen würde, bis diese Eiterbeule aufgestochen wäre (Stürm. Beifall). Als
das so war, da trat Fürst Bülow auf den Plan, der ein guter Volks-
psychologe war. Und in diesem Augenblick entstand bei ihm der Gedanke,
daß nunmehr der richtige Moment gekommen sei, an das deutsche Volk zu
appellieren. Man hat gesagt, dieser Feldzug des Fürsten Bülow sei nicht
gelungen, denn er habe ja nicht die Ultramontanen geschlagen, sondern die
Sozialdemokratie getroffen. Ich habe in jenen Zeiten viele Gespräche mit
dem Fürsten Bülow gehabt, und ich kann Ihnen sagen, ein solcher Ver-
kenner der Machtverhältnisse war Fürst Bülow nicht. Er wußte sehr gut,
daß das Zentrum nur in einer verhältnismäßig geringen Zahl von Mandaten
bedroht ist. Sein Kalkül war von Anfang an darauf gerichtet, der Sozial-
demokratie Schläge zu versetzen, indem er in dem Bundesgenossen des
Zentrums das Zentrum selbst traf. Und das ist glänzend gelungen. Es
läßt sich iene Bülowperiode in den Satz zusammenfassen: dem Liberalismus
ist sein Platz an der Sonne zu gönnen. Zum erstenmal wurde der Ver-
such gemacht, den Liberalismus in allen seinen Schattierungen einschließlich
der süddeutschen Demokratie, verkörpert in Herrn von Payer, zusammen
mit den konservativen Richtungen und Weltanschauungen in den Fragen der
deutschen nationalen Politik zusammenzufassen und mit diesen konservativen
und liberalen Mächten den Kampf aufzunehmen gegen Zentrum und Sozial-
demokratie. Wir wollen uns doch erinnern an jene hochgemuten Zeiten,
wie jubelnd diese Politik begrüßt wurde bis tief hinein in das konservative
Lager und in das Lager der links von uns stehenden Freisinnigen. Ich
erinnere mich sehr wohl, wie man damit rechnete, der Sozialdemokratie
auch das letzte Mandat in dem früher so ganz roten Königreich Sachsen
abzunehmen. Wie freudig begrüßten wir es, daß es in dieser Periode
gelang, den Freisinn, der solange abseits stand als ausgesprochene Oppositions-
partei, einzureihen in diese positiv arbeitenden Mächte an unserem Staats-
leben. Und heute! Versäumt, vergangen, vertan, ein großer Aufwand
schmählich vertan und die alte Misere in Deutschland wieder! Wir stehen
heute unter dem Eindruck einer tiefgehenden Unzufriedenheit, die über ganz
Deutschland lagert und die in einer Weise Tausende und Abertausende der
Sozialdemokratie zuführt, daß eine große Gefahr für unser Staatsleben
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