Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Sechsundzwanzigster Jahrgang. 1910. (51)

Das Veuische Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 16. 17.) 31 
munalvertretungen gefordert werden. Der Hauptteil der Heroldschen Rede 
galt den klerikalen Forderungen auf Herrschaft der Kirche über die Schule. 
16. Januar. (Berlin.) Die sozialdemokratische Partei ver- 
anstaltet in Berlin und Umgegend 61 Wahlrechtsversammlungen, 
in denen folgende Resolution angenommen wird: 
„Die Versammelten fordern erneut die volle staatsbürgerliche Gleich- 
berechtigung, insbesondere die Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten 
und geheimen Wahlrechts für alle über 20 Jahre alten Männer und Frauen 
auf Grund der Verhältniswahl und geloben, alles daranzusetzen, um dieser 
Forderung zum Siege zu verhelfen. Die Versammelten erwarten, daß die 
Parteileitung der preußischen Sozialdemokratie den reaktionären Plänen 
der Regierung mit allen Mitteln begegnet und für die Forderung des 
freien Wahlrechts einen Wahlrechtssturm entfesselt, der die verjunkerte 
Reaktion niederzwingt.“ 
17. Januar. (Preußisches Abgeordnetenhaus.) Fort- 
setzung der Etatsdebatte. 
Abg. Wiemer (Fr. Vg.): Der Finanzminister hat nun tunlichste 
Beschränkung der Ausgaben auf allen Gebieten angekündigt. Wenn der 
Reichsschatzsekretär im Reichstage Sparsamkeit verlangt, so bin ich ganz 
damit einverstanden, denn die Ausgaben des Reichs sind im großen und 
ganzen unproduktive Ausgaben. Wenn aber der preußische Finanzminister 
zur Sparsamkeit mahnt, dann sage ich: Schade! Im vorigen Jahre hat 
Herr Sydow als Reichsschatzsekretär mit Recht die Forderung nach Spar- 
samkeit an die Spitze seines Programms gestellt. Jetzt als Handelsminister 
in Preußen hat er für die Entwicklung von Handel und Verkehr, für die 
Förderung des gewerblichen Lebens zu sorgen, und hoffentlich wird er, 
wenn der Finanzminister ihn zur Sparsamkeit mahnt, manchmal sagen: 
Herr Kollege, das ist doch ganz etwas anderes! Ich freue mich, daß im 
Etat mehr Mittel für den gewerblichen Unterricht und für den Fort- 
bildungsschulunterricht, auch auf dem Lande ausgeworfen sind. Die wich- 
tigste Reform, die bevorsteht, ist die Reform des Wahlrechts. Es besteht 
ein auffallender Unterschied zwischen der vorjährigen und der diesjährigen 
Thronrede. Im vorigen Jahre hieß es: „Es ist mein Wille“, und die 
organische Fortentwicklung des Wahlrechts wurde als „eine der wichtigsten 
Aufgaben der Gegenwart“ bezeichnet. In diesem Jahre wird nur noch von 
einer „ernsten Aufgabe“ gesprochen. Nun haben wir ja gehört, daß Graf 
Reventlow in Oldesloe ausgeführt hat, der Kaiser habe sich gegen die 
Erwähnung der Wahlrechtsreform in der Thronrede ausgesprochen, und 
Fürst Bülow habe ernstlich befürchtet, der Kaiser würde die Stelle auslassen. 
Abg. Frhr. v. Zedlitz (Fk.): Der Parteihader ist in unserem Vater- 
lande jetzt ebesonders groß. Wir sind nahe daran, kaum noch einander zu 
verstehen. Während wir in den letzten Jahren hier in ruhiger Sachlich- 
keit die Geschäfte des Hauses erledigen konnten, hat der heutige und der 
vorgestrige Tag Beispiele von Parteitaktik gebracht, die nicht gute Hoff- 
nungen erwecken. (Rufe l.: Herold!) Gewiß, den meine ich auch! Es hat 
sich ein Zwiespalt zwischen Stadt und Land, zwischen Handel, Industrie 
und Landwirtschaft herausgebildet. Handel und Industrie haben sich organi- 
siert zu dem ausgesprochenen Zwecke, ihre Interessen mehr geltend zu 
machen, bis jetzt nicht im Gegensatz zur Landwirtschaft. Hoffentlich können 
wir Industrie und Landwirtschaft als treue Verbündete erhalten. Aber 
der Umstand, daß das mittlere und Kleingewerbe sich dieser Organisation
	        
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