Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Sechsundzwanzigster Jahrgang. 1910. (51)

Das Deutsche Reich und seine eintelnen Glieder. (Dezember 24. 25.) 451 
In der Verfügung des Kultusministers heißt es: Die Bürgerkunde 
hat den Schüler an der Hand der Erscheinungen in der Heimat aufzuklären 
über die Verhältnisse und Bedingungen des kirchlichen, kommunalen und 
staatlichen Verwaltungslebens. (Familie, Gemeinde, Kreis, Provinz, Staat, 
Reich usw.). Dabei ist darauf zu achten, daß der angehende Staatsbürger 
seine wichtigsten Pflichten und Rechte kennen lerne, mehr aber noch darauf, 
daß er die bestehenden Einrichtungen und Organisationen als solche erkennt, 
die die menschliche Gesellschaft sich zum Wohle ihrer einzelnen Glieder 
geschaffen hat, so daß der junge Mensch innerlich in die Gemeinschaft 
hineinwächst. Es ist deshalb dringend zu empfehlen, den Unterricht in 
der Bürgerkunde mit geschichtlichen Rückblicken zu durchsetzen. Auch 
selbständige Geschichtsbetrachtungen im Anschluß an vaterländische Gedenk- 
tage können sehr gut in diesen Unterricht aufgenommen werden. Ferner 
wird darauf hingewiesen, daß der Schüler die Vorgänge auf wirt- 
schaftlichem Gebiet, im Verkehrswesen im weitesten Sinne, im Vereins- 
und Genossenschaftswesen kennen lernt. Bei allem ist die ideale und ethische 
Seite zu berücksichtigen, da dieser Unterricht sich besonders dazu eignet, 
erzieherisch wirkende Betrachtungen einzuflechten. Speziell bezüglich der 
Lebenskunde wird betont, daß besonders sittlich-religiöse, bürgerlich-vater- 
ländische, wirtschaftliche und andere Momente zu berücksichtigen sind. Alle 
verschiedenartigen Belehrungen sollen eine stark hervortretende erziehliche 
Bedeutung haben. Wo man besondere Stunden außerhalb des eigentlichen 
Unterrichts für die sittlich religiöse Förderung der Schüler einrichtet, sind 
auch dann weitere Erziehungsziele sich zu stecken, wenn die Bezeichnung 
„Religionsunterricht“ gewählt wird. 
24. Dezember. (Schloß Plawniowitz.) Graf v. Ballestrem, 
1898—1906 Präsident des Reichstages, t. 76 Jahre alt. 
24. Dezember. (Sachsen.) Das amtliche „Dresdener Journal“ 
meldet die aus Opportunitätsgründen erfolgte Zurückziehung des 
von Prinz Max in der Zeitschrift „Roma el'Oriente“ veröffentlichten 
Aussatzes über die griechische Kirche (s. Röm. Kurie). 
25. Dezember. Aus einem Aufsatz des Wirkl. Geh.Rats Prof. 
Dr. v. Schmoller in der Wiener „N. Fr. Pr.“ über die gegenwärtige 
innerpolitische Lage Deutschlands und die Demokratisierungstendenzen 
der Gegenwart. 
„Die Moabiter Straßenunruhen wurden von den Angstmeiern als 
Vorboten der Revolution angesehen. Sie waren in Wirklichkeit ein Pöbel- 
auflauf, wie er überall einmal vorkommen kann.... Die Sozialdemokraten 
werden bei den Neuwahlen erheblich gewinnen, das Zentrum wird sich in 
alter Zahl erhalten, die Konservativen werden ihre Abneigung gegen die 
Erbschaftssteuer und ihre ganze Finanzpolitik mit dem Verlust einer Anzahl 
Sitze bezahlen und daraus die Lehre ziehen, daß Herr v. Heydebrand etwas 
vorsichtiger und versöhnlicher gegen die Nationalliberalen auftreten muß. 
Diese werden ungeschwächt, aber auch ohne große Verstärkung aus den 
Wahlen hervorgehen. Die Linksliberalen werden zunehmen. Groß und 
durchschlagend wird die Verschiebung der Parteien nicht sein. . Eine 
sozialdemokratische Minorität im Parlament, in Stadt- und Kreisvertretungs- 
körpern ist heute heilsam. Schon als Ventil der Leidenschaft, vor allem 
aber als politische Erziehungsschule. Alle unsere deutschen großen Ober- 
bürgermeister sind einig, daß einige Sozialdemokraten in der Stadt- 
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