Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Sechsundzwanzigster Jahrgang. 1910. (51)

498 Erofbritennien. (Februar 12.— 21.) 
Um in den nächsten Allgemeinwahlen, die jeden Augenblick statt- 
finden können, den Sieg zu erringen, spricht sich Herr Chamberlain noch 
dafür aus, die Bodengesetze abzuändern und so die Zahl der grundbesitzenden. 
Bauern zu vermehren. Trotzdem besteht er darauf, die Tarifreform im 
Vordergrund des politischen Interesses zu behalten. Diejenigen Wahlorte 
hätten sich am besten bewährt, wo man Tarifreform am kecksten und am 
längsten gepredigt habe. Die Arbeiter seien in manchen Landesteilen ihren 
Wortführern weit voran und forderten Tarifreform. 
12. Februar. Wahlresultate. 
Da sich nach dem englischen System die Wahltage über einige Wochen 
verteilen, so schwanken die Erwartungen über das Endergebnis lange hin 
und her. Anfangs schien den Unionisten die Majorität zuzufallen. Da 
aber die spät angesetzten Wahlen in Schottland wie immer der liberalen 
Partei günstig waren, so ergab sich schließlich für die 670 Abgeordneten 
die folgende Parteistellung: 274 Liberale, 273 Unionisten, 82 irische Na- 
tionalisten und 41 Mitglieder der Arbeiterpartei. Da beim Anfang der 
Budgetberatungen i. J. 1909 die Liberalen 383, die Unionisten 167, die 
irischen Nationalisten 87 und die Arbeiterparteien 32 Sitze innehatten, so 
haben die Unionisten 106 und die Arbeiterpartei 9 Sitze gewonnen, während 
die Liberalen 109 und die irischen Nationalisten 5 Sitze verloren haben. 
Das Kabinett des Herrn Asquith hat also, auch bei Hinzurechnung der 
Arbeitervertreter, keine „working majority“. Durch stillschweigendes Ueber- 
einkommen galt es schon vor den Wahlen als Regel, daß eine Regierung, 
die nur mit Zuhilfenahme der irischen Nationalisten eine Majorität zu- 
stande bringen kann, zu grundlegenden Formen des englischen Staatsrechts 
nicht befugt sei. Das ungefähre Gleichgewicht der Liberalen und Unionisten 
im Parlament bietet also für schwerwiegende Majorilätsentscheidungen ein 
ernstes Hindernis. 
15. Februar. Eröffnung des Parlaments und einstimmige 
Wiederwahl des Sprechers Lowther. 
16. Februar. Besuch des Prinzen und der Prinzessin Heinrich 
von Preußen beim Königspaare. 
21. Februar. (Unterhaus.) Besprechung der durch die 
Wahlen herbeigeführten Situation. 
Zunächst führte der Führer der Opposition Balfour aus, das Land 
habe sich in der Budgetfrage ausgesprochen; er sei nicht ganz sicher, was 
es zum Ausdruck gebracht habe. (Gelächter.) Aber in jedem Falle habe 
es seine Ansicht ausgesprochen, und wenn das Budget eingebracht würde 
und die wenn auch nicht begeisterte, so doch numerisch genügende Unter- 
stützung des Hauses erhielte, so würde es Gesetz werden. Er wünsche, daß 
jemand nach der Wahl sagen könne, was die Meinung des Landes, sowohl 
in Bezug auf Homerule, das Oberhaus wie das Budget sei. Er frage 
daher, ob es möglich sei, eine einzige Versammlung mit der Macht zu be- 
trauen, die Verfassung von Grund aus abzuändern. 
Premierminister Asquith wies darauf hin, daß die Thronrede 
wohl die kürzeste sei, die es jemals gegeben, da sie sich in der Hauptsache 
nur mit den Beziehungen der beiden Häuser zueinander befasse. Abgesehen 
von der nötigen Vorsorge für die Finanzen sei dies die einzige Frage, an 
die die Regierung heranzutreten beabsichtige. Jedenfalls würde sie, wenn 
auch vielleicht einige Vorlagen von geringerer Bedeutung eingebracht werden
	        
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