Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Sechsundzwanzigster Jahrgang. 1910. (51)

684 Hedersicht über die politische Eutwichelnus des Jahres 1910. 
der englischen Publizistik so eifrig behandelte Reibungsfläche der 
beiden Nachbarreiche im Zusammenhange mit dem Ausbau der 
Bagdadbahn. 
Ebensowenig wie den Chinesen hat die Förderung der Ex- 
pansionslust des amerikanischen Handels durch den Staatssekretär 
Knox den Südamerikanern Vorteil gebracht. In Nicaragua ver- 
bat sich die Regierung eine Intervention der großen Republik in 
ihre inneren Streitigkeiten durch eine Zirkulardepesche an die Re- 
gierungen Deutschlands, Englands, Frankreichs, Italiens, Spaniens 
und der mittelamerikanischen Republiken. In Mexiko bereiteten 
die amerikanischen Konzessionsjäger der Wiederwahl des Präsidenten 
Porfirio Diaz Schwierigkeiten, indem sie den Gegenkandidaten unter- 
stützten. In der Republik Panama war die Einmischung in die 
Präsidentenwahlen seitens des amerikanischen Geschäftsträgers eine 
so offenkundige Bedrohung, daß dann doch von Washington aus 
eine Desavouierung erfolgte (S. 653), wie ja auch das voreilige 
Kundgeben der Interventionspolitik in der Mandschurei durch den 
Gesandten Crane im Oktober 1909 zunächst aufs schärfste des- 
avouiert wurde. Daß Mittel- und Südamerika eine ernste Sorge 
vor rücksichtsloser Bevormundung durch die Vereinigten Staaten 
hegen, bewies auch der Verlauf des Panamerikanischen Kongresses 
in Buenos Aires. Auch in Spitzbergen hatten die Vereinigten 
Staaten Annexionsgelüste (S. 634), und die Republik Liberia sollte 
unter amerikanisches Protektorat gestellt werden (S. 637). 
Für die europäischen Großmächte treten während des ganzen 
Jahres 1910 die auswärtigen Verwickelungen in den Hintergrund 
vor Fragen der inneren Politik. In der Schwebe blieb am Schluß 
des Jahres die Schwierigkeit, die das Einlaufen französischer Kriegs- 
schiffe in den nicht geöffneten marokkanischen Hafen Agadir hervor- 
rief (S. 412, 432, 136, 551) und die Unmöglichkeit, die englische 
Regierung zu einer ordnungsmäßigen Erledigung der deutschen 
Schadenersatzansprüche aus dem Burenkriege zu bewegen (S. 449). 
Rußland und Österreich-Ungarn kehrten schon im März zur Wieder- 
herstellung normaler diplomatischer Beziehungen zurück (S. 593). 
Die Friedensliebe der großen Mächte offenbarte sich auch in den 
übereinstimmenden Bemühungen, in Kreta den bestehenden Zustand
	        
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