686 Aebersicht ũber die politische Entwichelung des Jahres 1910.
einsetzung des Zentrums als ausschlaggebender Partei, ist im
Jahre 1910 nicht eingetroffen.
Das erste Kennzeichen der politischen Haltung des Reichs-
kanzlers von Bethmann Hollweg war das energische Vorgehen gegen
die Beamten, die in Kattowitz bei den Stadtverordnetenwahlen
polnischen Kandidaten den Sieg verschafft hatten. Der Inter-
pellation des Zentrums über diese Maßregelungen trat er im
preußischen Abgeordnetenhaus mit einer Entschiedenheit gegenüber
(S. 51—56), die derjenigen Bülows und Bismarcks nicht nach-
stand. Am Schlusse der weit ausgesponnenen Debatte sicherte er
aber durch eine Erklärung die Beamten gegen jede irgend vermeid-
liche Einmischung der Regierung in die Ausübung ihrer politischen
Rechte (S. 62). Die in der kaiserlichen Thronrede 1908 angekün-
digte Wahlrechtsvorlage besprach er bei ihrem Erscheinen am
3. Februar mit den Vertretern der vier bürgerlichen Parteien des
Abgeordnetenhauses. Der Entwurf (S. 99—102) hielt die Wahl-
kreiseinteilung, deren Grundlage eine fünfzig Jahre alte Volks-
zählung bildete, das Dreiklassensystem und die öffentliche Abstim-
mung bei den Urwahlen fest, ermäßigte aber den plutokratischen
Charakter des ursprünglichen preußischen Wahlsystems durch die
„Maximierung“ und eine Erhöhung der Stellung gewisser „Kultur-
träger“ in der Wählerliste (S.96—99). Das Interesse an den
Wahlen sollte durch Einführung des direkten Verfahrens gesteigert
werden. Die allgemeine Erwartung ging dahin, daß dem Ver-
langen aller Parteien außer den Konservativen im Laufe der Ver-
handlungen die Offentlichkeit der Abstimmung geopfert werden
würde, um das Gesetz zustande zu bringen. In der Presse fand
diese Vorlage nichts als Ablehnung (S. 104—106), die um so
entschiedener war, je weiter links die Parteirichtung des betreffenden
Blattes lag. Die Erregung machte sich in vielen Städten Preu-
ßens und der Bundesstaaten in oft wiederholten Demonstrationen
(s. Index: Parteiwesen) Luft, die sich bis Anfang Juni hinzogen.
Namentlich die Sozialdemokraten der Bebelschen Richtung sahen
in der Vorlage eine „brutale und höhnische Kriegserklärung“, weil
die Dreiklassenschmach noch verschärft wurde durch die Bevorzugung
selbst niederer Beamten. Vor der allgemeinen Entrüstung ver-