688 Nebersicht über die yolitiscze Entwichelung des Jahres 1910.
im deutschen Volksleben würdigende Haltung. Überhaupt trat mit
immer größerer Deutlichkeit ein gewisser Zwiespalt hervor zwischen
der weitgehenden Nachgiebigkeit des leitenden Staatsmannes bei
der Abwicklung der preußischen Wahlrechtsvorlage und dem mora-
lischen Schwunge, der sich sonst bei seiner Amtsführung bemerkbar
machte.
Wir heben zunächst den Gang der Verhandlungen über die
Wahlrechtsvorlage heraus. Die Mehrheitsbeschlüsse der Kommission
wurden zwar auch im Plenum angenommen; aber die Parteien
behielten sich ihre Stellungnahme bis zu dem Moment vor, wo
sich das Ganze der beschlossenen Verfassungsänderungen übersehen
ließe. Auf diesen Standpunkt, die Annahme oder Ablehnung der
einzelnen Bestimmungen hinauszuschieben, stellte sich am 12. März
auch die Regierung. So erklärt sich die Ablenkung des Kampfes
auf scheinbar kleinliche Einzelheiten. Eine große Erbitterung zwi-
schen Konservativen und Nationalliberalen wurde dadurch hervor-
gerufen, daß der Abgeordnete Friedberg ein Scheinmanöver der
Konservativen, die durch einen Antrag auf öffentliche Wahl ihr
Paktum mit dem Zentrum kaschieren wollten, durch Antrag auf
namentliche Abstimmung und Stimmenthaltung seiner eigenen Partei
unmöglich machte. Herr v. Heydebrand und zur Lasa sah sich ge-
nötigt, um die Annahme des konservativen Parteiantrages zu ver-
hindern, die Mehrheit seiner Parteigenossen zur Stimmenthaltung
zu veranlassen (S. 180—182, 188— 189). Auch in der Frage, wie
weit Terminswahl und Fristwahl zuzulassen seien, überließ die
Regierung, die hierbei von dem eigentlichen Verfasser der Wahl-
rechtsvorlage, Geheimrat v. Falkenhayn, vertreten wurde, die Ent-
scheidung dem Abgeordnetenhause. Bei der dritten Lesung der
Wahlrechtsvorlage erklärte der Ministerpräsident, daß die Staats-
regierung die geheime Stimmabgabe bei den Urwahlen und das
indirekte Wahlverfahren annehmen werde, wenn „eine erhebliche
Mehrheit dieses hohen Hauses sich dahin entscheidet“ (S. 199).
Darauf erfolgte die Annahme mit 238 gegen 138 Stimmen. Bis
auf fünf Konservative stimmten Zentrum und Konservative ge-
schlossen dafür, bis auf zwei Freikonservative alle andern Parteien
(Freikonservative, Nationalliberale, Freisinnige, Sozialdemokraten