NMebersicht üher die politische Entwickelnus des Jahres 1910. 689
und Polen) dagegen. Bei der verfassungsmäßig vorgeschriebenen
Wiederholung der Abstimmung nach drei Wochen (11. April) schnitt
die Majorität jede Debatte durch die Taktik ab, einen Redner an-
zumelden, der dann bloß seinen Verzicht aufs Wort erklärte, während
gleichzeitig ein Antrag auf Schluß der Debatte gestellt wurde, den
die Majorität möglichst schnell annahm. Die nun einsetzenden
Verhandlungen im Herrenhaus benutzte die Regierung, um „die
notwendigen Ergänzungen“ zu beschaffen, die den Beitritt der Frei-
konservativen und Nationalliberalen herbeiführen könnten. Der
Ministerpräsident leitete deshalb die neue Verhandlung mit dem
Hinweise ein, daß die Erweiterung des Kreises der Wahlrechts-
privilegierten über die (vom Abgeordnetenhaus allein zugelassenen)
zum akademischen Studium Berechtigten hinaus und die Drittelung
der Wähler in größeren Bezirken als den 1893 dafür festgesetzten
Urwahleinheiten wahrscheinlich geeignete Maßregeln zur Gewinnung
der bisher ablehnenden Parteien sein würden. Das Herrenhaus
bot bei diesen Verhandlungen das Schauspiel, daß der Gegensatz
der politischen Auffassung noch unmittelbarer zum Ausdruck kam,
als bei den Verhandlungen des Abgeordnetenhauses. Für die In-
tentionen der Regierung setzte sich am entschiedensten die „neue
Fraktion“ ein. Es fielen ebenso scharfe Ausdrücke gegen den schwarz-
blauen Block und gegen ein Bündnis mit dem Zentrum wie ent-
schiedene Forderungen für geheime und direkte Wahl, ja selbst für
das Reichstagswahlrecht, während andrerseits die öffentliche Ab-
stimmung auch ihre Verteidiger fand. Um nach Zustandekommen
einer Reform neue Wahlgesetzveränderungen zu erschweren, verlangte
Graf Vork v. Wartenberg für künftige Wahlrechtsvorlagen eine
Zweidrittelmajorität in beiden Häusern. Der Ministerpräsident
hatte die Kommissionsverhandlungen des Herrenhauses dazu benutzt,
um als den Kernpunkt weiterer Kompromißversuche eine andere
Drittelung der Wähler herauszuarbeiten. Er akzeptierte die Fassung
des Antrages Freiherr v. Schorlemer, wonach Gemeinden bis zu
10000 Einwohnern einen Drittelungsbezirk, größere bis zu 20000
Einwohnern zwei Drittelungsbezirke und noch größere weitere Dritte-
lungsbezirke auf jede angefangenen 20000 Einwohner bilden sollten.
Am 29. April erfolgte die fast einstimmige Annahme des Antrages
Europäischer Geschichtskalender. Ul. 44