Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Siebenundzwanzigster Jahrgang. 1911. (52)

422 FKrankreich. (Juni 26., Juli 2./3.) 
einen Vizepräsidenten des Obersten Kriegsrats gebe, und daß er der perfön- 
lichen Ansicht sei, die oberste Leitung müsse in den Händen des Ministeriums 
bleiben, da es unmöglich wäre, das Geschick eines ganzen Landes einem 
einzigen Manne anzuvertrauen. Admiral Bienaimé unterstützte die Er- 
klärungen Hesses und wies auf den Wert eines Führers hin, der befähigt 
sei, den Sieg zu organisieren. Er erwähnte das Beispiel Preußens und 
Moltkes. Kriegsminister Goiran konnte die Ueberzeugung nicht verleugnen, 
die er vor wenigen Tagen kräftig vertreten hatte, aber Unterstützung fand 
er weder bei seinen Ministerkollegen, noch in der Kammer. Er führte aus, 
seinen Erklärungen sei eine Deutung gegeben worden, die sie nicht hätten. 
Er habe nur seine persönliche Ansicht zum Ausdruck gebracht, die der seines 
Vorgängers Berteaux entspräche. Zum Schluß sagte er: „Nichts ist an der 
seit langem vorgesehenen Organisation und an dem Kommando geändert 
worden, das allen Anforderungen genügt. Ich habe dem nichts hinzu- 
zufügen.“ Mit 248 gegen 224 Stimmen lehnte darauf die Kammer die 
vom Justizminister Perrier namens der Gesamtregierung verlangte Ver- 
trauenskundgebung ab und beschränkte sich auf Annahme der einfachen 
Tagesordnung. Das Ministerium nimmt darauf seine Demission. 
26. Juni. Bildung des Ministeriums Caillaux: 
Präsidentschaft und Ministerium des Innern Caillaux, Justizmini- 
sterium Cruppi, Auswärtiges de Selves, Krieg Messimy, Marine Delcassé, 
Finanzen Klotz, Handel Senator Counba, öffentliche Arbeiten Deputierter 
Angagneur, Landwirtschaft Pams, öffentlicher Unterricht Steeg, Kolonien 
Lebrun, Arbeitsministerium Rene Renoult. 
Das Ministerium wird in der Presse als das „Ministerium der großen 
Probleme“ bezeichnet, woraus in der Kammer der Spitzname „Ministerium 
der problematischen Größen“ gemacht wird. 
2.—3. Juli. Preßstimmen zur Entsendung des „Panther“ 
nach Agadir. 
Die Blätter der Kolonialpartei machen geltend, daß Kiderlen- 
Wächter nicht starke Worte genug finden konnte, als vor einigen Wochen 
fälschlich die Entsendung dreier Kriegsschiffe nach den marokkanischen Ge- 
wässern gemeldet worden sei. Er befinde sich heute in Widerspruch mit seiner 
eigenen Kritik von damals. Dagegen warnt der Führer der Kolonial= 
politiker Abg. Etienne: es wäre unklug, die öffentliche Meinung Frank- 
reichs allzu stark zu erregen. Wachsamkeit genüge. „Im übrigen“, so sagte 
er, „lassen wir unserer Diplomatie Zeit, die wahre Bedentung des deutschen 
Vorgehens zu ergründen.“ Auch Rene Millet, der talentvollste Publizist, 
über den die Kolonialpartei verfügt, warnt vor blindem Eifer und meint, 
der symbolische Akt Deutschlands — denn um mehr handle es sich nicht — 
sei eine etwas drastische Aufforderung der deutschen Diplomatie an die 
französische: „Kommt, lasset uns von Geschäften reden!“ Auch der Temps 
hält eine offene Aussprache unter den jetzigen Umständen für durchaus an- 
gemessen. „Wir haben jetzt volle Freiheit, mit wem wir immer wollen, 
Marokkoverträge abzuschließen, unbekümmert um vorangegangene Ab- 
machungen.“ Fast in allen Blättern findet man einen Hinweis darauf, daß 
das Wort nunmehr an England sei. In diesem Zusammenhang wird hervor- 
gehoben, daß die Kabinette von Paris und London einen sehr lebhaften 
Meinungsaustausch eingeleitet haben. 
Jaures schreibt in der „Humanite“: „Wenn es wahr ist, wie ge- 
wisse Notizen versichern, daß unser Minister des Aeußern erklärt hat, 
Deutschlands Einschreiten laufe dem Algecirasvertrag zuwider, dann bedeutet
	        
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