Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Siebenundzwanzigster Jahrgang. 1911. (52)

434 fru#kriit. (September 20., 21.) 
sein soll, wie dies bisher in Tanger der Fall ist, hält Deutschland fest, 
und Frankreich ist bereit, in diesem Punkte nachzugeben. Dagegen be- 
stehen noch die Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden 
Regierungen in der Frage des Madrider Vertrages. Nach diesem 
Vertrage von 1880 haben alle Vertragsteilnehmer, d. h. außer Frankreich 
noch dreizehn europäische Mächte und die Vereinigten Staaten von Nord- 
amerika, das Recht, zwölf marokkanische Untertanen in ihren Schutz auf- 
zunehmen, eine unbegrenzte Anzahl eingeborener Ackerbaugenossen zu 
beschützen, die zwar nicht mit ihrem Vermögen, jedoch mit ihrer Person 
der einheimischen Gerichtsbarkeit entzogen sind, und jeder Handelsfirma, sie 
sei in Marokko niedergelassen oder nicht, zwei einheimische Makler oder 
Sensale zuzuteilen, die sich desselben Ausnahmegerichtsstandes erfreuen wie 
die Schutzbefohlenen. Die Aufrechterhaltung des Madrider Vertrages wäre 
vollkommen unverträglich mit der Einrichtung und Ausübung der franzö- 
sischen Schutzherrschaft in Marokko. Frankreich verlangt also die Aufhebung 
dieses Vertrages. Die deutsche Regierung ist darauf noch nicht eingegangen. 
Eine Einigung ist jedoch nicht möglich, wenn Deutschland auf der Aufrecht- 
erhaltung des Madrider Vertrages besteht. Die französische Regierung 
verlangt nicht, daß die in den Schutz einer fremden Macht aufgenommenen 
marokkanischen Eingeborenen nach der Unterzeichnung der französisch- 
deutschen Einigung ihres Schutzes verloren gehen sollen. Die heutigen 
Schutzbefohlenen sollen dies bleiben, solange sie leben; doch soll von nun 
an kein Marokkaner mehr in ausländischen Schutz aufgenommen werden. 
Die Einrichtung soll also mit dem Tode der heutigen Schutzbefohlenen 
allmählich erlöschen. Frankreich macht sich natürlich anheischig, die Zu- 
stimmung aller andern Mächte zum Verzicht auf die Vorteile des Madrider 
Vertrages zu erlangen, damit Deutschland durch sein Zugeständnis nicht in 
eine weniger günstige Lage komme als die Mitunterzeichneten des Madrider 
Vertrages. Nur soll Deutschland, da es dafür eine Entschädigung empfängt, 
zuerst seinen Verzicht erklären und Frankreich seine Unterstützung bei den 
anderen Mächten gewähren, um sie zur Nachahmung dieses Beispiels zu 
bestimmen. „Matin“ hält die französische Forderung für derartig folge- 
richtig, daß er überzeugt ist, Deutschland werde darauf eingehen. Deshalb 
sieht er vertrauensvoll einem ziemlich raschen Abschluß der Verhandlungen 
entgegen. Dann könnten die Verhandlungen über die Gebietsentschädigung 
beginnen, die wohl auch keine besonderen Schwierigkeiten bieten und nicht 
allzu lange dauern werden. 
Nach dem „Echo de Paris“ bestehen noch über zwei andere Punkte 
Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Regierungen. Deutschland 
will sich das Recht vorbehalten, mit dem Sultan von Marokko Sonder- 
verträge abzuschließen, die es Frankreich mitzuteilen sich verpflichtet, wenn 
Frankreich dieselbe Verpflichtung eingeht. Deutschland will ferner mit 
Spanien besondere Vereinbarungen für das unter spanischem Einfluß 
stehende marokkanische Gebiet treffen. Diese beiden Vorbehalte erklärt nach 
dem nationalistischen Blatte die französische Regierung für unannehmbar, 
weil sie eine Waffe gegen den französischen Einfluß in Marokko bedeuten 
önnen. 
21. September. Friedensschalmeien der „Agence Havas“. 
Nachdem die gestrige Unterredung zwischen dem Botschafter Cambon 
und dem Staatssekretär v. Kiderlen-Wächter die Neigung Deutschlands 
bestätigt hat, den Boden einer endgültigen Verständigung mit Frankreich 
über Marokko zu suchen, kann man der Ansicht sein, daß nach der 
Prüfung des deutschen Standpunktes, der sich die französische Regierung
	        
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