Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Siebenundzwanzigster Jahrgang. 1911. (52)

Frankrei. (Dezember 16.) 447 
zwischen England und Deutschland sein. Des weiteren tritt er für die 
Entente cordiale und die französisch-spanische Freundschaft ein und prote- 
stiert gegen die kriegerischen Reden, die im letzten Sommer von gewissen 
Mitgliedern der Regierung gehalten worden seien. Vaillant stellt ferner 
fest, daß Deutschland in der marokkanischen Frage eine sich gleichbleibende 
Politik getrieben habe, während die französische Politik widerspruchsvoll 
gewesen sei und ein doppeltes Gesicht gezeigt habe, und schließt, indem er 
eine vollständigere Internationalisierung Marokkos empfahl. Der Deputierte 
Ferry, Mitglied der radikalen Linken, gibt seinem Zweifel daran Ausdruck, 
ob das Abkommen Marokko von allen politischen und wirtschaftlichen Dienst- 
barkeiten, mit denen es belastet gewesen sei, befreit habe. Er kritisiert die 
Klausel des Abkommens, die sich auf die Schutzbefohlenen bezieht. Durch 
diese Klausel werde Deutschland wieder seinen Weg in die französische Politik 
in Marokko hineinfinden. Auch die Klausel, die sich auf die Eisenbahnen 
und Berggerechtsame bezieht, bespricht der Redner abfällig. Der marokka- 
nische Boden mit seinen Lasten bleibe Frankreich, die Bodenschätze aber mit 
ihrem Ertrage gingen ihm verloren. (Beifall.) 
Deputierter Delahaye, Mitglied der Rechten, sagt: „Der Augen- 
blick ist gekommen, von der Regierung Rechenschaft zu fordern.“ Er greift 
den Ministerpräsidenten Caillaux an, weil er zu viel Entgegenkommen gegen- 
über Deutschland gezeigt habe, und tadelt heftig die Politik der Regierun 
Da die Privatgespräche die Stimme des Redners zeitweise übertönen, verläft 
Delahaye die Tribüne mit der Bemerkung, er werde seine Rede morgen 
fortsetzen. 
Deputierter Millerand, der nunmehr das Wort ergreift, sagt, eine 
Idee werde seine Worte leiten: Die Haltung des Landes bei den jüngsten 
Ereignissen. „Das Land hat“, so führt er aus, „im Verlauf der Spannung 
iu diesem Sommer einmütig eine Haltung bewahrt, die für seine Vertreter 
eine Lehre und ein Beispiel sein sollte. Wir schulden es ihm, mit der 
größten Kaltblütigkeit zu diskutieren, ohne uns zu irgendeiner Erregung 
fortreißen zu lassen und ohne auf andere Stimmen zu hören, als die der 
nationalen Ehre und der Interessen des Landes. (Beifall.) Das Ausland 
muß wissen, daß es in Frankreich gegenüber Fragen der auswärtigen Politik 
weder in der Kammer noch im Lande Parteien gibt.“ (Beifall.) Millerand 
erklärt sodann, daß er entschieden für die Annahme des Abkommens ist, und 
sagt: „Frankreich erhält das Protektorat über Marokko unter Bedingungen, 
die wir prüfen werden. Ist das Protektorat zu teuer bezahlt worden? 
Hat man es vorschnell gekauft? Man kann darüber streiten, aber niemand 
würde zu behaupten wagen, daß dieses Protektorat in unserer Lage nicht 
eine Notwendigkeit sei und der Tradition unserer Politik entspreche. Die 
Politik der Republik kennt wohl die Größe und die Folgerichtigkeit ihrer 
Ziele. (Beifall a. d. L.) Die Abtretung eines Teils des Kongos ist für 
uns eine grausame Losreißung und ein empfindlicher Verlust. Man hat 
Befürchtungen über die Absichten Deutschlands gehegt. Wozu diese beiden 
Zipfel? sagte man. Der Minister des Aeußern hat uns darüber beruhigt. 
Was die Zukunft des belgischen Kongos betrifft, so war es unbegreiflich, 
daß man über dieses Gebiet verfügen konnte, ohne Belgien zu befragen. 
Die Achtung vor dem Recht der Neutralen muß ein Hauptgrundsatz unserer 
Politik bleiben. (Lebh. Beifall.) Wir bemessen die Verpflichtungen, die wir 
gegenüber den anderen Mächten haben, nicht nach der Größe ihrer mili- 
tärischen Macht. (Lebh. Beifall.) Unsere belgischen Freunde wissen das 
sehr wohl. Nach dem großen Opfer, das wir im Kongo gebracht haben, 
können wir Deutschland in keiner Form eine weitere Entschädigung zu- 
gestehen. Deutschland kann nicht außer dem Kongovertrag noch obendrein
	        
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