Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Siebenundzwanzigster Jahrgang. 1911. (52)

460 Italien. (Juni 9.) 
9. Juni. (Kammer.) Rede des Ministers Marquis di San 
Giuliano über die auswärtige Politik. 
Er bedauere, daß Guicciardini gesagt habe, Italien werde mehr 
wegen seines Himmels und seiner Denkmäler, denn als politischer Faktor 
geschätzt. Er habe die gegenteilige Ueberzeugung. Die Teilnahme der 
zivilisierten Welt an den vaterländischen Festlichkeiten habe eine hohe mora- 
lische und politische Bedeutung, die Guicciardini zum Teil entgangen zu 
lein scheine. Er stimme mit diesem darin überein, daß die Aufrechterhaltung 
es territorialen status quo und des gegenwärtigen Gleichgewichts im 
Adriatischen Meere im Interesse Italiens gelegen sei. Er glaube, der beste 
Weg, dieses Ziel zu erreichen, sei gegenseitiges Vertrauen und ein gefestigtes 
Bündnis zwischen Italien und Oesterreich-Ungarn. Minister di San 
Giuliano äußerte seine Befriedigung darüber, daß die Beziehungen zwischen 
den beiden Regierungen intime und herzliche seien und daß der beständige 
Gedankenaustausch über die großen Balkanfragen Italien täglich eine neue 
Bestätigung der Uebereinstimmung der Ansichten und Ziele der beiden Re- 
gierungen gebe. Dieses Einvernehmen in großen Fragen, sagte der Minister, 
gestatte es, die kleinen Zwischenfälle einem hohen gegenseitigen Interesse 
unterzuordnen. Der Freundschaft zwischen den beiden Regierungen ent- 
spricht immer mehr die Freundschaft zwischen den beiden Völkern, zu der 
die jüngsten Besuche österreichischer uud ungarischer Bürger in Italien bei- 
getragen haben. Die Sprache der österreichisch-ungarischen Regierung und 
der hervorragendsten Redner in der letzten Tagung der Delegationen war 
so warm und freundschaftlich, daß sie in unseren Gemütern einen Wider- 
all gleicher Gefühle finden muß. Italien will an der Sicherung des 
riedens mitarbeiten und wird keine gefahrvollen Schritte unternehmen. 
Abgesehen von Tripolis und Cyrenaika haben wir im allgemeinen keinen 
Grund, uns über die Haltung der ottomanischen Behörden unseren 
Interessen gegenüber in dem größten Teile des ottomanischen Reiches zu 
beklagen. Es herrscht sicher in den leitenden ottomanischen Kreisen das 
Gefühl, daß die Ausdehnung der wirtschaftlichen Interessen Italiens in 
Tripolis und die Ausdehnung der Interessen der anderen Mächte in 
irgendeiner anderen Provinz des Reiches eine Gefahr für die territoriale 
Integrität des Reiches darstellen könnte. Dieses Gefühl beruht auf einem 
schweren Irrtum, denn gerade dadurch, daß man bei der Politik des Miß- 
trauens beharrt, schafft man die von den Türken gefürchtete Gefahr. Aber 
es ist ebenso sicher, daß Reden wie diejenige von Foscari die Interessen 
und den Einfluß Italiens in der Türkei schädigen. Der Minister stellte 
sodann die gegenteiligen Behauptungen verschiedener Redner richtig und 
hob an der Hand einer ganzen Reihe von Tatsachen hervor, daß die Inter- 
essen Italiens die anderen in Tripolis und Cyrenaika überwiegen. Die 
Abgrenzung zwischen Tunesien und Tripolitanien geschah in 
Uebereinstimmung mit dem englisch-französischen Abkommen vom 31. März 
1899, das im Jahre 1902 als Grundlage für die jetzt noch in Kraft be- 
findlichen italienisch-französischen Abmachungen über Marokko und Tripoli- 
tanien genommen wurde. Mehr als im Handel mit dem Innern, der 
durch andere Ursachen und hauptsächlich durch die Entwickelung der Eisen- 
bahnen und der Stromstraßen Nigeriens bedroht ist, liegt der wirtschaft- 
liche Wert Tripolitaniens und Cyrenaikas in seinen landwirtschaftlichen und 
vielleicht auch in seinen Mineralschätzen. Man muß diesen wirtschaftlichen 
Wert ohne Uebertreibung einschätzen und auf dem eingeschlagenen Wege 
mit Ruhe und Festigkeit fortschreiten. Der Minister erklärte es weiter für 
notwendig, daß das italienische Kapital mit der italienischen Politik im
	        
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