Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Siebenundzwanzigster Jahrgang. 1911. (52)

496 Rußland. (Mai 10.—20.) 
daß die Regierung auch ein Gesetz gegen die Einwanderung Deutscher in 
die vier polnischen Grenzgouvernements einbringen werde. Der Pole 
Dymssa ließ diese Ankündigung protokollieren. 
10. Mai. (Duma.) Stolypins Antwort auf die Inter- 
pellation wegen Einführung der Semstwos in den Westprovinzen 
mittels des Verfassungstricks. 
Die Regierung habe die Meinungsverschiedenheit zwischen Duma 
und Reichsrat zum Anlaß genommen, entschiedene Maßregeln zu ergreifen. 
Sie habe drei Wege gehabt. Sie hätte erstens die Vorlage abermals in 
der Duma einbringen können. Das wäre jedoch eine außergewöhnliche 
Demonstration gegen den Reichsrat gewesen. Zweitens hätte sie die erste 
Kammer auflösen können. Das wäre jedoch ohne praktische Bedeutung ge- 
wesen, da der Reichsrat eine Interessenvertretung, nicht aber eine Ver- 
tretung der Bevölkerung darstelle und nur die Hälfte der Reichsräte aus 
Wahlen hervorgegangen sei. Endlich hätte das Notverordnungsrecht ange- 
wandt werden können, und das habe die Regierung getan. In ihrer 
Meinungsverschiedenheit mit dem Reichsrat in der Altgläubigenfrage er- 
wartet die Duma selbst, daß die Regierung dieses Recht anwende. Die 
Einführung der Semstwo in dem Westgebiet sei nicht weniger wichtig als 
die Altgläubigenfrage. Die Semstwoinstitution erscheine als eine notwendige 
Verteidigung der Rechte der russischen Bevölkerung, die niemals in schweren 
Zeiten Verrat am Staate geübt habe. Von einer Bedrängung der Nicht- 
russen durch diese Maßnahme sei keine Rede. Durch ein fruchtloses Wieder- 
einbringen der Vorlage bei der Duma hätte die Regierung dieser die Verant- 
wortung zugewälzt. So habe sie selbst die Verantwortung auf sich ge- 
nommen und die russischen Grundlagen ihrer Politik gerettet. Der Beschluß 
der Duma sei aus politischen Erwägungen heraus bereits schon im voraus 
entschieden, aber in der Tiefe ihrer Seele fühlten wohl viele, daß die Tat- 
sache, daß der Monarch frühere patriotische Absichten der Duma in der 
Semstwofrage gebilligt habe, eine Befestigung, aber nicht eine Schwächung 
der jungen russischen Volksvertretung bedeute. Nach mehrständiger Debatte, 
die bis 21¼ Uhr nachts dauerte, nahm die Duma mit 202 gegen 82 Stimmen 
folgende von den Oktobristen eingebrachte Tagesordnung an: „Daß der 
Ministerpräsident den Beschluß des Ministerrates, die Semstwos in den 
sechs Westgonvernements einzuführen, der allerhöchsten Genehmigung unter- 
breitet hat, sieht die Duma als eine Uebertretung des § 87 der Grund- 
gesetze, folglich als die Ausführung einer ungesetzmäßigen Handlung an 
und erachtet die Erklärungen des Ministerpräsidenten für ungenügend.“ 
17. Mai. (Petersburg.) Ankunft des deutschen Kron- 
prinzenpaares. · 
« 17. Mai. (Duma.) In geheimer Sitzung werden drei 
Gesetzvorlagen angenommen: die Anweisung der Kredite für die 
Verstärkung der Schwarzmeerflotte an das Marineministerium, die 
Vorlage über die Kredite für 1911 zur Verstärkung der Reichs- 
verteidigung und die Schaffung des Postens eines diplomatischen 
Beamten beim Generalgouverneur in Irkutsk. 
20. Mai. (Petersburg.) Das Kronprinzenpaar tritt die 
Heimreise an.
	        
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