Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Siebenundzwanzigster Jahrgang. 1911. (52)

626 Mebersicht über die politische Entwicheluns des Jahres 1911. 
spiel nach Paris zu verlegen, wo der Glaube an die eigene Kriegs- 
bereitschaft sehr im Schwange war und durch die Hoffnung auf 
englische Hilfe noch gesteigert werden konnte. 
Eine Folge der englischen Einmischung war, daß statt des 
Küstengebietes von Französisch--Aquatorial-Afrika das Binnenland 
an der Ost= und Südgrenze Kameruns als Entschädigung angeboten 
wurde (S. 428— 430). Da Deutschland darauf einging, ein weiteres 
Stück des Entenschnabels an Frankreich abzutreten, so konnte das 
Ganze der franzöfischen öffentlichen Meinung als ein für die Deutschen 
wenig günstiger Gebietsaustausch dargestellt werden, der gegenüber 
dem Vorteil, daß in ganz Marokko die Protektoratsrechte Frank- 
reichs von Deutschland anerkannt wurden, kaum in Betracht kam 
(S. 432 ff.). Mehr noch als in den schließlich unfruchtbaren Ver- 
handlungen zur Ausführung des Abkommens von 1909 arbeitete 
die deutsche Diplomatie für die Sicherung des Prinzips der offenen 
Tür in dem von Frankreich beherrschten Marokko nicht nur zu- 
gunsten seiner eigenen Untertanen, sondern für alle Länder. Wie 
sehr man ins Detail ging, beweist ja der nachher abgeschlosfene 
Vertrag. Daß man sich bei wichtigen diplomatischen Verhandlungen 
Zeit lassen muß, wenn sie dauernde Bedeutung haben sollen, war 
schon ein Grundsatz Ludwigs XIV. Aber in diesem Falle wurde 
die Geduld der Völker auf eine sehr harte Probe gestellt, weil in 
diesem Stadium der Abbruch der Verhandlungen in jedem Augen- 
blick den Krieg bedeuten mußte. Die Situation wurde dadurch 
kompliziert, daß auf deutscher Seite das Geheimnis gewissenhaft 
gewahrt wurde, auf französischer aber Mitteilungen an England 
und an die Presse gemacht wurden, die den Erfolg nicht begünstigen, 
wohl aber hemmen konnten. Insbesondere konnte England durch 
ostentative Bekundung seines vor einem Kriege gegen Deutschland 
nicht zurückschreckenden Einstehens für den franzöfsischen Standpunkt 
die Hartnäckigkeit der französischen Unterhändler bis zur Gefahr 
des Abbruches der Verhandlungen steigern. Daß es noch zweimal 
(Ende August und Mitte September) seine Kriegsbereitschaft doku- 
mentierte (S. 367 ff., 604 ff.), lenkte die nervöse Erregung in Deusch- 
land mehr und mehr gegen England (S. 145 f.). Als ein bedenk- 
liches Symptom der Spannung mußten auch die sich häufenden
	        
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