Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Achtundzwanzigster Jahrgang. 1912. (53)

34 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Februar 15.) 
harrungszustandes. Wir haben also 1911 einen sehr beträchtlichen Ueber- 
schuß. Wenn wir 1912 weniger günstig abschließen, so würde die Schulden- 
tilgung wieder in Frage gestellt. Die Konjunkturgewinne von 1911 gehen 
sowieso verloren und die Ausgaben wachsen. Das Zentrum will mich zu  
einer Finanzpolitik treiben, wie sie einmal Charles Dickens schildert, wo ein 
Mann einem Ziegelarbeiter fünf Pfund zahlen wollte, aber dazu nicht kam 
und nun eine Vergnügungsreise nach London machte, die ihm vier Pfund 
kostete. Dann sagte er: Jetzt habe ich noch ein Pfund gespart. Wir haben 
glücklich keine Anleihe gebraucht, nun will Herr Spek  rasch wieder Anleihen 
haben. Die gsünstigen Verhältnisse auch des gegenwärtigen Reichshaushalts 
zu benutzen, sind wir gern bereit. So weit die Verhälnisse aber nicht gut 
sindn, dürfen wir in das frühere Vorgehen nicht wieder verfallen. 
Abg. Graf Bestarp (K.): Trotz der Finanzreform haben wir einen 
großen Aufschwung erlebt. Nur eine Erschütterung des politischen Lebens 
und eine Parteizersplitterung ist eingetreten. Der Grund war nicht eine 
Steuerablehnung. Wäre die Erbschaftsteuer angenommen worden, dann  
wäre die Finanzreform noch viel unpopulärer geworden, als sie jetzt ist. Die Größe der Steuerlast war es, die die Unruhe brachte. Zu den Ausführungen 
die Herrn Frank über die Prösidentenwahl habe ich zu sagen, der positiven 
Mitarbeit der Sozialdemokraten legen wir nichts in die Wege, wenn sie 
sich auf die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaftsordnung stellen. Eine 
Vertretung des Reichstages glauben wir ihnen aber nicht zuerkennen zu 
können. Wie die Dinge liegen, und da die Sozialdemokraten dazu ohne 
unser Zutun berufen worden sind, glauben wir in diesem Präsidium nicht 
vertreten sein zu können. Auch der Reichstag ist eine Iustitution des 
Reiches; und einer Partei, die grundsätzlich Gegner der Staats- und 
Gesellschaftsordnung ist, können wir das Recht der Vertretung dieses  
Reichstages nicht zuerkennen. (Sehr richtig" r.) Was die auswärtige Lage  
angeht, so hege ich nicht die Hofnung des Herrn Frank, daß das Wachstum 
der Sozialdemokratie den Frieden mit England bestärke. Wir müssen uns 
stark und mächtig halten und unsere Stellung und wirtschaftliche Kraft stets 
auf der Höhe halten. Unsere Flotte ist kein Luxus und wir behalten uns 
vor, darüber, was wir auf dem Gebiet der Rüstungen als Luxus oder als 
Notwendigkeit anzusehen  haben, uns unser eigenes Urteil ohne fremdes 
Dreinsprechen zu bilden. Wir sind bereit, an der  Rüstungen alles zu billigen, 
wenn die Rüstungen beschlossen werden. Den Kopf werden wir uns jetzt  
nicht darũber zerbrechen, das können wir später sehen. (Ahal! I.) Unsere ab- 
lehnende Haltung zur Erbschaftssteuer ist bekannt und ist unverändert dieselbe. 
Reichskanzler Dr. v. Bethmann Hollweg: Meine Herren, ich will 
mich jetzt nicht zu den Fragen der inneren Politik äußern. Die Herren 
Dr. Frank und Speck haben Bezug genommen auf die Aeußerungen, die 
der englische Premierminister gestern im Unterhause über die wechsel- 
seitigen Beziehungen von England und Deutschland gemacht hat. 
In Uebereinstimmung mit diesen Aeußerungen will ich meinerseits 
folgendes erklären: Der englische Kriegsminister Lord Haldane hat bei seiner 
hiesigen Anwesenheit, wenn auch ohne Ermächtigung zu bindenden Ab- 
machungen, so doch im Auftrage des englischen Kabinetts die Punkte, an 
denen sich die Interessen der beiden Länder berühren, mit uns durchgesprochen, um eine Grundlage für vertrauensvolle Beziehungen herzustellen. (Bravo!) Die Ansprache, die von uns lebhaft begrüßt worden ist, hat in mehrfachen eingehenden und offenen Unterhaltungen stattgefunden und wird fortgesetzt werden. (Bravo!) Ich hoffe, das hohe Haus wird mir darin beipflichten, 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.