Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Achtundzwanzigster Jahrgang. 1912. (53)

36 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Februar 16.) 
den roten Hahn auf dieses Haus gesetzt! Aber die Rechte ist nicht nur 
der Schrittmacher der Sozialdemokratie. Sie hat die Sozialdemokratie 
mit ihrer egoistischen Politik gezüchtet. (Lebhafte Zustimmung I., Gelächter r.) 
Wir sind slolz auf unsere Stichwahlparole. Sie war ganz konsequent, weil 
es gegen den schwarzblauen Block ging. Vorwürfe darũber könnte uns 
nur eine Partei in diesem Hause machen, die noch nie mit den Sozial- 
demokraten verhandelt hat. Es meldert sich niemand! (Große Heiterkeit.) 
Sie alle haben schon das getan, was Sie uns vorwerfen.  
Reichskanzler Dr. v. Bethmann Hollweg: Es scheint mir an- 
gebracht. einiges über die Stellung der Verbündeten Regierungen zu den 
Wahlen und den Wahlergebnissen zu sagen. Ich mochte vor allem 
die Vorwürfe zurückweisen, die gestern vom Abg. Sped  und auch sonst 
wohl ausgesprochen worden sind, daß wir für die Steuergesetzgebung 
nicht genügend eingetreten seien. Meine Herren, das ist eine Legende. 
Vergleichen Sie meine erste Rede aus dem Winter 1909, 
dort habe ich bereits die Notwendigkeit der Finanzreform   zur Wiederherstellung unserer 
Finanzen und die Nolwendigkeit der  Anahme der Finanzgesetze scharf 
betont. Damals und auch später habe ich ausgeführt, daß nur so eine 
Gesundung der Finanzen herbeigeführt   werden kann, daß die Reform 
eine notwendige Voraussetzung sel. In einer großen Anzahl von Presse- 
mitleilungen ist ferner Front gemacht worden gegen die Art und Weise, 
wie die verschiedenen Steuern gegeneinander abgewogen wurden. Aller- 
dings eines, meine Herren, habe ich nicht getan, die Ablehnung der  
Erbschaftssteuer habe ich nicht verteidigt, oder genauer gesagt: die Art, 
das Zentrum und die Konservativen sich gegen die Erbschaftesteuer  
festgelegt haben. (Lebhafter Beifall I) Das hätte ich auch nicht tun können 
angesichts der Stellung der Verbündeten Regierungen, die die Erbschafts- 
steuer für notwendig gehalten haben. Der Abgeordnete Sped hat gestern 
von einer Brüstierung der Parteien gesprochen, die die Finanzreform 
  
  
dann fort mit der Bemerkung, daß die Erbschaftssteuer weit über ihre 
wirkliche Bedeutung hinaus zu einer hochpolitischen Frage gemacht worden ist. Was ist das Ergebnis? 
 Dort auf  der linken sitzen die lachenden 
Erben! (Allgemeine Heiterkeit.) Daß es so kommen mußte, war von 
vornherein zu erkennen. Die Zeit wird kommen, wo der Sammelruf 
bloß von den Regierungsbänken aus, sondem auch aus ber Mitte 
des Volkes kommen wird. Warten wir nur die Zeit ab, sie wird noch 
kommen! Deshalb habe ich auch während der Wahlen bis zum letzten 
Augenblick die gemeinsamen Interessen des Bürgertums gegenüber der 
Sozialdemokratie zur Geltung zu bringen versucht. Erfolg habe ich 
damit nicht gehabt (Lachen aus der Linken), aber ich habe. meine Pficht 
getan. Meine Pflicht gegenüber der Monarchie und gegenüber dem Lande 
war es, darauf hinzuweisen, welche Verwirrung im Volke enistehen muß, 
wenn die Scheidelinie über die Grundanschauungen von Staat und Gesell- 
schaft von den bürgerlichen Parteien ins Nebelhafte verwischt wird. Wir 
haben merkwürdige Wandlungen erlebt. Der Feind von vor fünf Jahren 
hat 110 Mandate erworben. Vor fünf Jahren hat der Liberalismus 
gejubelt und heute jubelt er wieder. Ich begreife es ja (zur Linken 
gewendet), daß Sie vom liberalen Standpunkt aus eine Genugtuung 
darüber empfinden, daß Sie die Konservativen und das Zentrum geschwächt 
haben. Aber der Schaden des politiichen Gegners ist noch lange nicht der 
Nutzen des Landes. Was hat sich denn geändert? (Häufiges Unterbrechen 
bei den Sd., so daß der Reichskanzler längere Zeit nicht verständlich ist. 
Eitwa die Sozialdemokratie: Nein! Sie sind nicht fähig, ouch nur
	        
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