38 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Februar 16.)
zugestehen, daß unser Wahlrecht Mängel hat. Die Riesenwahlkreise mögen
dahin gehören, ober auch andere Dinge kommen in Betracht, vor allent
die Moral oder Unmoral des Stichwahlwesens. Es ist vorgekommen,
daß eine bürgerliche Partei allgemeine Abmachungen mit der Sozioldemokratie
über die Stichwahlen getroffen hat und in einem bestimmten Wahl-
kreise doch das Zusammengehen mit ihr als Verrat gebrandmarkt hat.
(Lebhafter Beifall r., Widerspruch I.) Ich selbst habe Flugblätter dieser
Art vor der Stichwahl im ersten Berliner Wahlkreise täglich erhalten. Ein
weiterer Fehler unseres Wahlrechte ist die mangelnde Vertretung der Mi-
noritäten. Ueberhaupt muß ich vor einer Uebertreibung des nackten Prin-
zips der Zahl warnen. (Aha! I.) Wer das nicht will, der wird versetzt,
und nur wer dem Götzen der Wahl huldigt, wird anerkannt. Und dann
wird eine schärfere Kontrolle des Reichstages über die Regierung, ein
Gesetz über die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers gefordert. Das ist
doktrinär, praktischen Wert hätte es nur, wenn es eine Etappe zur parla-
mentarischen Regierung sein soll. Ein Kanzler, der nur vom Kaiser und
König von Preußen abhängig ist, ist das notwendige Gegengewicht gegen
das freieste Wahlrecht, das Fürst Bismarck seinerzeit dem deutschen Volke
unter ganz bestimmten Voraussetzungen gegeben hat. Das Anwachsen der
Sozialdemokratie ist nicht ein Grund für, sondern nur noch ein Grund
mehr gegen die Verschiebung des Verhältnisses der Gewalten im Staate
zueinander. Politische Schäden würden durch solche Maßnahmen nicht
gebessert werden. Im Volke lebt eine förmliche Sehnsucht nach großen
Aufgaben, nach Zielen, die zu erreichen es lohnt. Aber sie sind nur zu
erreichen, wenn wir den Blick von den widerwärtigen Zänkereien der letzten
Zeit wieder vorwärts richten. Die großen Aufgaben liegen nicht in der
Richtung der Demokratisierung des Reichs. (Lebhafter Beifall r., Wider-
spruch I.) Der Friede Europas ist niemals mehr gefährdet gewesen, als wenn
in Deutschland die Straffheit der Organisation nachließ. Stetigkeit und
Fertigkeit der Politik ohne Extravaganzen nach rechts oder links tut uns not.
Wir haben vor uns das weite Gebiet der Sozialpolitik. Nicht
alle sozialpolitischen Aufgaben gehören zur Kompetenz des Reiches. Aber
alle sind wichtig für die Zukunft des Volkes. Noch nicht alle sind zur
Lösung reif, aber wenn Sie daran denken. dann kann die Befürchtung nicht
aufkommen, daß der Reichstag zur Arbeitslosigkeit oder Stagnation ver-
urteilt sein könnte. Aber wenn wir vorwärts kommen wollen, dann muß
das Bürgertum des allen Haders vergessen. Es muß zu gemeinsamer
Arbeit bereit sein und sich bewußt bleiben, daß es zugleich die Interessen
von Millionen von Arbeitern wahrzunehmen hat. Das Reich darf weder
reaktionär noch radikal regiert werden. sonst müßten wir *die beiden Teile
des Volkes von der Mitarbeit ausschließen. Der Gegensatz zwischen kon-
servativ und liberal kann nie ganz ausgeichaltet werden, beide Elemente
sind für das Stkaatsleben notwendig. Mit Entschiedenheit aber wende ich
mich dagegen, daß die Frage gestellt wird zwischen reaktionär und
sozialdemokratisch. Der Reichskanzler schließt mit folgenden Worten: Das wirtschafts-
und geistige Leben Deutschlands erfordert die Anspannung aller
Kräfte der Nation, in der querelles allemandes keinen Platz haben. Ein
Staat der seine Tüchtigkeit durch Uneinigkeit lähm, den wird die Welt-
geschichte erbarmungslos zu Boden treten.
Abg. Fürst Radtziwill bekennt sich für die polnische Fraktion
zu dem Programm der Verteidigung der vitalen Interessen derienigen
Teile der Bevölkerung Deutschlands, die die polnischen Abgeordneten
vertreten. Auch die polnische Fraktion werde fest auf eigenen Füßen stehen bleiben.