Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Achtundzwanzigster Jahrgang. 1912. (53)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Februar 16.) 39 
Abg. Dr. Arendt (Kp.): Die Mahnungen des Reichskanzlers zur 
Sammlung sollten wir nicht in den Wind schlagen. Die bisherige Etats- 
debatte hat allerding diese Hoffnungen nicht bestärkt; hoffentlich geschieht 
das nach der Rede des Reichskanzlers. Meine Partei wird sich den ein- 
helligen Mahnungen von rechts und links entgegenstellen. Allein an der 
gabi, sind wir doch überzeugt, daß die Zukunft uns recht geben wird. 
Die Entwicklung steht nicht still; wir sind eine Partei des Fortschritts 
auf konservativer Grundlage. (Lachen l.) Wir wollen den Anforderungen 
der Gegenwart Rechnung tragen, aber an dem Guten nicht rütteln. Für 
die nationale Arbeit werden wir auch im neuen Reichstag unsere Kraft 
einsetzen. Wir haben gezeigt, daß wir oft des Zünglein an der Wage 
bilden, anders als andere Parteien, die zerklüftet waren. 
Abg. Kumm (W. V.): Es gilt in den Kampf gegen die Sozialdemo- 
tie, und zwar derart, daß sie von innen heraus entwurzelt wird: Darum 
begrüße ich, doß auch die Wohnungsfrage heute vom Reichskanzler erwähnt 
worden ist. Jede zu diesem Zwecke aufgewendete Milliarde (große Heiterkeit l.) 
  wird reichen Segen bringen. Leider „schweben“ die Erwägungen 
der Regierung noch über sehr wichtige sozialpolitische Fragen; hier muß das 
Tempo der Erwägungen beschleunigt werden. 
Frhr. v. Scheele (Welfe): Wir Deutsch-Hannoveraner lassen 
uns von keiner Partei und von keinem Volksstamm an treudeutscher   
Gesinnung übertreffen. Den Elsaß-Lothringern wünschen wir von Herzen, 
daß sie ein wirklicher Bundesstaat werden, aber auch wir Hannoveraner 
haben eine Geschichte hinter uns, die sich der Geschichte eines jeden Volls- 
üammes würdig an die Seite stellt, und wir sind immer ein selbständiges Glied des Deutschen Reiches gewesen. 
Abg. Graf Posadowstky (b. l. Fr.): Durch die Rede des Schatz- 
sekretärs. Mang cs durch: „Wir brauchen neue Steuern“ und zwar für die 
Erhöhung und Verstärkung unserer Wehrkraft. Im übrigen ist meine An- 
sicht, das Rückgrat unserer Landesverteidigung ist doch die Landarmee, und 
sie wird an den Grenzen des Ostens und Westens entscheiden. In Eng- 
land fiel das Wort, wenn es das Wohl des englischen Volkes gelte, würden 
alle zahlen, selbst die Reichen. (Große Heiterteit.) Ich nehme an, die 
Deutschen werden in diesem Punkte hinter den Engländern an Patriotiomus 
nicht zurückstehen. Auch auf unseren diplomatischen Posten dürfen nur 
Männer stehen, die sich unzweifelhaft auf der Höhe ihrer Aufgabe befinden. 
Alle Fragen, die unsere Nation bewegen, selbst die politischen, sind im 
letzten Grunde  wirtschaftliche Fragen. Es ist sehr wichtig, daß kein Mann 
einen hohen diplomatischen Posten bekommt, der nicht auch ein gründlicher 
Kenner der Volkswirtschaft ist. Nun noch ein Wort über die Sozialdemo- 
kratie. Ihr Wachsen ist nicht das Werk ihrer Führer, das würde eine Ueber- 
schätzung ihrer Führer bein. (Abg. Bebel: Sehr richtig!) Sie ist in langen 
Zeiträumen allmählich unter der Oberfläche der bürgerlichen Gesellchaft 
emporgewachsen, und wenn sie diese Bedeutung erhielt, so tragen Regie- 
rung und bürgerliche Gesellschaft gleichzeitig einen erheblichen Teil der 
Schuld. Man hat zu lange Zeit vergehen lassen, ehe man sich um das 
Los der Massen gründlich bekümmerte. Unzweifelhaft ist es unbedingte Aufgabe des Staates, Ordnung und Ruhe des Staates zu schützen, auch die Rechtssphäre jeden einzelnen Arbeiters zu schützen. Auf diesem Standpunkt stand auch Briand. Aber darüber darf sich die bürgerliche Gesell-  
  
schaft nicht täuschen. Einer Partei, die 4½ Millionen Wähler hat, auch 
wenn viele Mitläufer dabei sind, kann man mit Gewalt nicht beikommen. 
Gedanken sperrt man nicht ein und nicht aus. Die Gewaltpolitiker sind 
in einem großen Irrtum, wenn sie diese ganze Richtung töten zu können
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.