Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Zweite Hälfte. (55b)

642 Frankreich. (März 13. 16.) 
zugezogen und bin mit der Linken nicht allzu unzufrieden. Ich bin dazu 
gelangt, die unerläßliche Wendung nach rechts zu gehen. Jetzt bin ich im 
Senat, wo ich das Gesetz über die direkten Steuern zur Abstimmung 
bringen werde. Heute abend wird die parlamentarische Session zweifellos 
geschlossen werden. Ich werde todmüde, stumpfsinnig, beinahe krank sein, 
aber ich werde dem Lande einen großen Dienst erwiesen haben. 
13. März. (Kammer.) Heeresbudget. 
Die Kammer nimmt mit 500 gegen 30 Stimmen einen von dem 
Sozialisten Gheszuière eingebrachten Zusatzantrag zum Heeresbudget an, 
der dafür eintritt, daß 2 Millionen Franken bewilligt werden zum Ersatz 
des Schadens, der den Familien durch Tod ihrer Kinder, ihrer Oberhäupter 
oder ihrer Ernährer verursacht wurde, die beim Militär infolge von Epi- 
demien oder anderen Krankheiten verschieden sind. 
13. März. (Senat.) Der Antrag des Senators Henry Michel, 
der die Besteuerung der französischen Rente fordert, wird mit 146 
gegen 126 Stimmen abgelehnt. 
15. März. (Belfort.) In einer Wahlrede gibt der ehemalige 
Kriegsminister Millerand bemerkenswerte Aufschlüsse über die Not- 
wendigkeit für Frankreich, unter allen Umständen bei der drei- 
jährigen Dienstzeit zu verharren. 
Er stellt dafür zunächst folgende diplomatische Erwägung an: Europa 
ist in zwei Mächtegruppen geteilt, deren Dauer eine notwendige Bedingung 
für die Erhaltung des Gleichgewichts ist, und damit für den Frieden der 
Welt. Was bestände an dem Tage, wo durch eine jener Machenschaften, 
die wir nacheinander sich unter unsern Augen entwickeln sahen, der Drei- 
verband unglücklicherweise geschwächt oder gar gelöst werden könnte, noch 
für ein Hindernis gegen die Vorherrschaft der großen Macht, die Sie kennen? 
Ja, es ist notwendig, alles zu tun, um diese Gruppierung zu erhalten. 
Aber geben Sie wohl darauf acht; man hat nur diejenigen Freundschaften 
und Bündnisse, die man verdient. Sie sind nicht allein das Ergebnis gegen- 
seitiger Zuneigungen, sondern vor allem — und was gibt es Berechtigteres? 
— das Ergebnis übereinstimmender Interessen. Dann erläutert Millerand 
die Notwendigkeit der dreijährigen Dienstzeit vom militärischen Stand- 
punkt aus zunächst mit dem besondern Hinweis auf Deutschland, indem 
er erklärt: Der einfache gesunde Menschenverstand erhebt gegen den Ge- 
danken Widerspruch, das organische Militärgesetz wieder in Frage zu stellen, 
sechs Monate, nachdem es angenommen worden ist. Was!? Man hat eine 
Schutzmaßregel von dieser Bedeutung gegen die Bedrohung getroffen, 
und man sollte an dem Tage darauf verzichten, wo sich die Drohung ver- 
wirklicht? Ich weiß wohl, daß man dies versprochen hat, aber der Ge- 
danke, in diesem Augenblick zur zweijährigen Dienstzeit zurückzukehren, ist 
nicht allein widersinnig, sondern er ist, wie ein Mitglied der Regierung 
es schon auf der Rednertribüne der Kammer sagte, unanständig. Zahlen- 
mäßig sucht alsdann Millerand zu beweisen, daß Deutschland mit seinen 
Heeresverstärkungen und mit seinem finanziellen Aufwande für das Heer 
Frankreich nicht nur stets vorangegangen sei, sondern es auch in weitem 
Maße überholt habe. Wozu, fragt er, auf der andern Seite dieser riesen- 
hafte Aufwand; welchem Gedanken folgt man darin? Was sind die Ab- 
sichten? Es ist mir wenig daran gelegen: ich brauche sie nicht zu kennen; 
die Tatsachen genügen mir; sie stellen einen Bruch des Gleichgewichts dar,
	        
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