Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Zweite Hälfte. (55b)

672 Fra#nkreich. (Juli 16.—24.) 
die russische Diplomatie in einem neuen Tone mit der deutschen Diplomatie. 
Früher war dieser Ton zögernd, jetzt ist er fest. Bisher hat sich Deutschland 
einige Freiheiten mit Rußland erlauben können, heute fürchtet es Rußland. 
Es gibt in Petersburg noch einige wenige Politiker, die eine französisch- 
russisch-deutsche Entente möchten. Diese Entente wird immer unmöglicher. 
Frankreich und Deutschland sind durch die Vergangenheit getrennt, Deutsch- 
land und Rußland sind aber durch die Zukunft getrennt, und diese Zukunft, 
das ist ein furchtbarer deutsch-russischer Kampf auf wirtschaftlichem Gebiete. 
16. Juli. (Paris.) Tagung des französischen Sozialisten- 
kongresses. 
Der Kongreß nimmt mit großer Mehrheit einen von Jaurès und 
Vaillant eingebrachten Beschlußantrag an, welcher die seinerzeit in Kopen- 
hagen gefaßte Resolution mit folgendem Zusatz enthält: „Der Kongreß 
sieht unter allen Mitteln, welche einen Krieg verhindern und die Regierung 
zur Anrufung eines Schiedsgerichts zwingen sollen, einen gleichzeitigen 
internationalen Gesamtstreik in den beteiligten Ländern, sowie eine volks- 
tümliche Bewegung und Aktion als besonders wirksam an.“ Weiter nimmt 
der Kongreß einen dem Wiener internationalen Sozialistenkongreß vorzu- 
legenden Beschlußantrag an über eine deutsch-französische Annähe- 
rung, in dem die in Bern und Basel abgehaltenen Besprechungen fran- 
zösischer und deutscher Parlamentarier mit Freuden begrüßt werden und 
mit besonderem Dank die verschiedenen Kundgebungen Elsaß-Lothringer 
gegen die Revancheidee hervorgehoben werden: „Die Internationale unter- 
stützt die in einer Kundgebung der elsässischen Sozialdemokraten vom 15. März 
1913 erhobenen politischen Forderungen und verlangt im Einvernehmen 
mit dem Jenenser Kongreß der deutschen Sozialdemokraten, daß Elsaß- 
Lothringen seine Autonomie erhalte, von der Ueberzeugung durch- 
drungen, daß hierdurch die für den Weltfrieden notwendige französisch- 
deutsche Annäherung in sehr großem Maße erleichtert würde.“ 
20. Juli. (Paris.) Beginn des Prozesses gegen Frau Caillaux. 
Die Anklageschrift des Generalstaatsanwalts Herbeau gipfelt in 
folgenden Sätzen: Wie stark auch die moralische Erregung war, in der sich 
Frau Caillaux am 16. März 1914 befand, so kann man doch nicht umhin, 
festzustellen, daß die Angeklagte den Gedanken, das Verbrechen auszuführen, 
leichtfertig gefaßt hat und sich mit voller Kaltblütigkeit bei der Ausführung 
der Tat benahm. Es liegt eine logische Vorbereitung der Handlung vor. 
Damit ist sie als mit Bedacht vollführt zu bezeichnen. 
24. Juli. Französische Pressestimmen über den Konflikt zwischen. 
Osterreich-Ungarn und Serbien. 
Fast durchweg wird Oesterreichs Schritt in rückhaltlosester Weise 
verurteilt. Der „Matin" sagt: Rußland werde Oesterreich-Ungarn zweifellos 
ersuchen, seine Aktion aufzugeben, um den Mächten die Prüfung der Akten 
zu ermöglichen, die Oesterreich zu ihrer Verfügung stellte. Das wäre eine 
vernünftige Lösung, zu der sich Europa entschließen müßte. Auch Oester- 
reich habe nur dieses eine Mittel, um seine bona fides zu beweisen: Die 
Annahme des russischen Ersuchens. — Jaures schreibt in der „Humanité“: 
Die österreichische Note ist furchtbar hart. Sie scheint darauf berechnet, 
das serbische Volk aufs tiefste zu demütigen oder zu zerschmettern. Die 
Bedingungen, die Oesterreich den Serben auferlegen will, sind derartig, 
daß man sich fragen muß, ob die klerikale und militärische Reaktion in 
Oesterreich nicht den Krieg wünscht und ihn nicht unvermeidlich machen 
 
	        
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