674 Fr#a#kreich. (Juli 27.—August 1.)
27. Juli. Der „Temps“ über die Aufgabe Deutschlands:
In dieser entscheidenden Stunde muß Deutschland gleichzeitig die
entscheidende Handlung tun. Bis jetzt hat es scheinbar durch eine Billigung
ohne Einschränkung ein Unternehmen ermutigt, an dem es aber nicht teil-
genommen haben will. Der Kaiser und der Reichskanzler sind zu weit-
schauende Geister, um den Umfang ihrer gegenwärtigen Verantwortung zu
verkennen. Wenn sie nichts tun, um Oesterreich-Ungarn eine der verschie-
denen Lösungen, durch die der Krieg vermieden werden kann, anzuraten,
muß jeder annehmen, daß dieser Krieg Deutschlands Wünschen entspricht.
Will Deutschland den Krieg? Nur es allein kann in Wien ein Wort reden,
dessen Aufrichtigkeit die schärfsten Vorurteile nicht verdächtigen können. Nur
es allein kann Oesterreich-Ungarn veranlassen, die Gefahren eines nicht
zu rechtfertigenden Abenteuers zu erwägen. Wenn Deutschland, dessen Politik
seit vierzig Jahren friedlich geblieben ist, diese Worte in Wien nicht hören
läßt, so bedeutet das die Auslösung aller europäischen Kräfte. Denn wenn
Deutschland Krieg will, so ist das seit 30 Jahren errichtete diplomatische
und politische Werk aufs Spiel gesetzt. Es handelt sich darum, zu wissen,
ob man in Berlin glaubt, daß der österreichisch-serbische Konflikt eine gute
Gelegenheit ist, in Europa einen allgemeinen Krieg zu entfesseln.
(Sonderbarerweise übersieht dieser Mahner dabei das viel Näher-
liegende: Serbien zur Ruhe und zur Erfüllung der Forderungen zu
bewegen.)
28. Juli. (Paris.) Frau Caillaux wird freigesprochen, da
es der Verteidigung gelingt, das Moment des Vorbedachtes und
der überlegung bei Begehung des Attentats hinfällig zu machen.
29. Juli. (Paris.) Rückkehr des Präsidenten Poincaré, der
infolge der bedenklichen politischen Lage die Besuche in Christiania
und Kopenhagen aufgegeben hat.
31. Juli. (Paris.) Der Sozialistenführer Jean Jaures wird
im Café Croissant erschossen.
Zwei Stunden vorher hat Jaurêès im Auftrage der sozialistischen
Partei den Versuch gemacht, durch eine persönliche Intervention bei dem
Ministerpräsidenten Viviani die französische Regierung zu bestimmen, an
Rußland das energische Verlangen zu richten, daß es keinerlei Unvorsichtig-
keit (imprudence) begehe, welche die friedliche Lösung des Konflikts erschweren
könnte. (Vgll. H. Oncken, Der Ausbruch des Krieges in „Deutschland und
der Weltkrieg“ S. 650 f., 2. Aufl., Leipzig 1916.) In dem (unter dem Nach-
laß vorgefundenen) letzten Briefe Jaurès (vom 30. Juli 1914) heißt es:
Hier in Frankreich arbeiten wir mit allen Gewaltmitteln für einen Krieg,
der ausgefochten werden muß, um ekelhafte Begierden zu befriedigen, und.
weil die Pariser und Londoner Börsen in Petersburg spekuliert haben. Ich
muß mich jetzt an die Franzosen wenden, von Versammlung zu Versamm-
lung gehen, vielleicht muß ich auch zum Generalstreik schreiten, der die
Mobilisation in Frankreich verhindern würde.
Der Mörder heißt Raoul Villain, ist 29 Jahre alt und der Sohn
eines Schreibers am Zivilgericht in Reims. Daß die russische Regierung
diesen Mord veranlaßt hat, wird durch spätere Enthüllungen (und die
Führung des Prozesses) als ziemlich sicher erwiesen.
31. Juli und 1. August. Briefwechsel zwischen Präfident