Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Zweite Hälfte. (55b)

676 frankreich. (August 1.) 
auseinander gesetzt haben. Sie können versichert sein, daß die gegen- 
wärtige Lage Europas für mich die Ursache von viel Kummer und Sorge 
ist, und ich bin glücklich bei dem Gedanken, daß unsere beiden Regierungen 
in so freundschaftlicher Weise gearbeitet haben, um für die Fragen, die 
zu lösen sind, eine friedliche Lösung zu finden. So wäre es für mich eine 
wahre Quelle der Genugtuung, wenn unsere vereinten Kräfte zum Er- 
folge führten, und ich verbleibe nicht ohne Hoffnung, daß die furchtbaren 
Ereignisse, die so nahe scheinen, verhindert werden können. Ich bewundere 
die Kaltblütigkeit, von der Sie und Ihre Regierung Zeugnis geben, in- 
dem Sie sich hüten, an der Grenze übertriebene Maßnahmen zu treffen 
und eine Haltung einzunehmen, die am allerehesten geeignet wäre, als 
eine Herausforderung gedeutet zu werden. Ich mache persönlich alle 
Anstrengungen, um eine Lösung zu finden, die es unter allen Um- 
ständen ermöglicht, die gegenwärtigen militärischen Maßnahmen aufzu- 
schieben und den Großmächten Zeit zu geben, unter sich mit aller Ruhe 
zu verhandeln. Ich habe die Absicht, diese Bemühungen ohne Verzug fort- 
zusetzen, solange eine Hoffnung auf friedliche Lösung übrig bleibt. Was 
die Haltung meines Landes betrifft, so wechseln die Ereignisse so rasch, 
daß es schwer ist, vorauszusagen, was geschehen wird. Aber Sie können 
versichert sein, daß meine Regierung fortfahren wird, mit Herrn Cambon 
alle Punkte, die geeignet sind, die beiden Nationen zu interessieren, frei- 
mütig und offen zu besprechen. 
1. August. 3°% nachmittags. Anordnung der allgemeinen 
Mobilmachung. 
1. August. Präsident Poincaré erläßt folgenden Aufruf an 
die Nation: 
Seit einigen Tagen hat sich die Lage Europas trotz der Anstrengungen 
der Diplomatie erheblich verschlechtert. Der Horizont ist verdüstert. Zu 
dieser Stunde haben die meisten Nationen ihre Militärkräfte mobilisiert. 
Selbst Länder, die von der Neutralität geschützt sind, haben geglaubt, 
vorsichtshalber diese Maßnahmen treffen zu müssen. Mächte, deren konsti- 
tutionelle oder militärische Gesetzgebung der unseren nicht ähnlich sieht, 
haben ohne cin Mobilisationsdekret Vorbereitungen eingeleitet und weiter- 
geführt, die tatsächlich der Mobilisierung gleichwertig sind und nur eine 
Durchführung derselben zum voraus bedeuten. Frankreich, das immer seinen 
Friedenswillen betätigt hat, das in tragischen Tagen Europa Ratschläge 
der Mäßigung und ein lebendiges Exempel der Weisheit gab, das seine 
Anstrengungen zur Aufrechterhaltung des Weltfriedens vermehrte, hat sich 
selbst für alle Eventualitäten vorbereitet und nunmehr die ersten notwendigen 
Maßnahmen getroffen zum Schutze seines Gebietes. Aber unsere Gesetz- 
gebung erlaubt nicht, diese Vorbereitungen vollständig zu gestalten ohne 
ein Mobilisierungsdekret. Ihrer Verantwortlichkeit bewußt und im Gefühl, 
daß sie eine heilige Pflicht verletzen würde, wenn sie nicht beizeiten vor- 
sorgte, hat die Regierung soeben das Dekret erlassen, das durch die Lage 
notwendig geworden war. Die Mobilisierung ist nicht der Krieg. In den 
augenblicklichen Umständen erscheint sie vielmehr als das beste Mittel, um 
der Welt den Frieden zu sichern. Stark in ihrem glühenden Wunsch, eine 
friedliche Lösung der Krisis herbeizuführen, wird die Regierung im Schutze 
dieser notwendigen Vorsichtsmaßregeln ihre diplomatischen Bemühungen 
fortsetzen und sie hofft immer noch auf ein Gelingen. Sie zählt darauf, 
daß die Kaltblütigkeit unserer edeln Nation sie keiner ungerechtfertigten. 
Aufregung unterliegen lasse. Sie zählt auf den Patriotismus aller Fran-
	        
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