Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Zweite Hälfte. (55b)

732 Italien. (Dezember 3.—5.) 
der italienischen Kammer erhoben worden, ohne daß der Präsident ihn 
unterdrückte, und er beweise, daß die Geschichte des Dreibundes als ab- 
geschlossen zu betrachten sei. Die demokratischen Blätter äußern sich in 
gleichem Sinne. Die klerikalen Blätter sehen in der Regierungserklärung 
die Versicherung der weitern Beibehaltung der Neutralität. Die „Nord- 
deutsche Allgemeine Zeitung“ bemerkt (am 4.) zu der Rede: Die Er- 
klärungen Salandras werden als eine bedeutende und für die Politik 
Italiens richtunggebende Verlautbarung wie in Italien selbst auch in 
Europa großen Eindruck machen. Salandra legte Wert darauf, festzustellen, 
daß Italien die bisher beobachtete Neutralität aus eigenem, freiem Ent- 
schluß eingeleitet und durchgeführt hat. Die gleiche Freiheit des Entschlusses 
will der italienische Staatsmann seinem Lande für den Fall gewahrt wissen, 
daß eine weitere Fortdauer der Neutralität etwa mit Lebensinteressen des 
Königreichs nicht mehr vereinbar erscheinen sollte. Würden infolge der 
großen europäischen Verwicklungen schwerwiegende Aenderungen im Besitz- 
stand der Großmächte wahrscheinlich werden, so würde sich Italien an eine 
Politik der Enthaltsamkeit nicht gebunden erachten. Für die Freunde und 
Verbündeten Italiens hat diese entschlossene Wahrung seiner Großmacht- 
stellung nichts Ueberraschendes. Eine Mehrheit für diese nationale und 
patriotische Politik wird dem Kabinett Salandra in der italienischen Kammer 
sicher sein. Bei den Verbündeten Italiens besteht volles Verständnis 
dafür, daß das apenninische Königreich sich bei europäischen Entscheidungen 
nicht ausschalten lassen kann. 
3. Dezember. Die radikale Gruppe der Kammer beschließt 
einstimmig die Regierungserklärung zu billigen. Auch die Gruppe 
der demokratischen Linken nimmt eine Tagesordnung an, worin 
sie die patriotischen Erklärungen der Regierung zustimmend zur 
Kenntnis nimmt. 
4. Dezember. Fürst Bülow wird mit der Führung der Ge- 
schäfte der deutschen Botschaft in Rom betraut. (Siehe S. 440.) 
4. Dezember. (Kammer.) Erörterung der Regierungs- 
erklärung. 
Die Redner billigen zumeist die Haltung der Regierung. Die Re- 
publikaner sprechen sich für ein Vorgehen Italiens gegen die Zentral- 
mächte aus. Auch der unabhängige Sozialist Labriola vertritt die An- 
sicht, daß die Verantwortung für den europäischen Krieg auf Deutschland 
falle, und daß die italienischen Interessen gegenwärtig durchaus von denen 
der Zentralmächte getrennt werden müßten. Der Sozialist Treves erklärt 
sich im Namen seiner Parteigenossen für eine Tagesordnung, die die Er- 
klärungen der Regierung nicht billigt. Er stellt fest, daß, während die 
Neutralitätserklärung die einmütige Zustimmung des Landes gefunden habe, 
man verschiedener Ansicht darüber sei, was diese Neutralität alles in sich 
schließe. Er und seine Freunde seien Anhänger der absoluten Neutralitäöt. 
Das brauche keine Gleichgültigkeit gegenüber dem größten der historischen. 
Ereignisse zu bedeuten. Sie könne und müsse für Italien ein Mittel sein, 
seine große Aufgabe der Humanität und Gerechtigkeit während des Krieges 
und auch später auszuüben. 
5. Dezember. (Kammer.) Als Abschluß der Erörterungen 
über die Regierungserklärung wird die von der Regierung ge-
	        
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