Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Zweite Hälfte. (55b)

734 Stalien. (Dezember 7. 8.) 
die Verantwortung beurteilen können, aber nicht heute. Das Land stimmt 
mit der Regierung überein, seine Interessen schützen zu wollen, und sie 
werden geschützt werden. Ich kann nicht über diese Erklärungen hinaus- 
gehen. Die Kammer muß sagen, ob sie Vertrauen zur Regierung hat. In 
diesem Augenblick kann man über nichts anderes verhandeln. Wir kennen 
die furchtbare Verantwortung, die auf uns ruht. Wir kennen sie und fühlen 
sie. Aber ohne volle Handlungsfreiheit unter Zustimmung der Kammer 
können weder wir noch irgendeine Regierung das Land in diesem Augen- 
blick leiten. 
Der frühere Ministerpräsident Giolitti führt aus: Da es vor 
allem von Wichtigkeit sei, daß die Loyalität Italiens über jeder Diskussion 
stehe, so erinnere er bezüglich des völligen Rechtes Italiens, die Neutralität 
zu erklären, daran, daß schon im Jahre 1913 Oesterreich-Ungarn an eine 
Aktion gegen Serbien dachte, der es den Charakter einer Defensivaktion 
geben wollte. Er aber habe mit dem verstorbenen Minister des Aeußern 
die Ansicht geteilt, daß dabei der Bündnisfall nicht gegeben sei, und diese 
Ansicht habe die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den verbündeten 
Mächten nicht gestört. Als Italien seine Neutralität proklamierte, habe es 
also vollkommen loyal gehandelt und nur sein gutes Recht ausgeübt. Er 
billige durchaus die von der Regierung abgegebenen Erklärungen einer 
wachsamen und gewappneten Neutralität, die von allen Italienern so lange 
loyal beachtet werden müßten, als nicht der Augenblick eintrete, der es zur 
Pflicht mache, ins Feld zu eilen, um die höchsten Interessen Italiens zu 
wahren. Er ermahnt weiter die Italiener, eine kluge und reservierte Hal- 
tung zu beobachten. Die höchsten und vitalsten Interessen des Landes er- 
forderten von jedermann, besonders aber von den Politikern und von der 
Presse, die größte Zurückhaltung. Er werde seine Stimme für die Re- 
gierung abgeben, von der er wünsche, daß sie in ihrem Vorgehen verharren 
möge, um sich, wie im gegenwärtigen Augenblick, die volle Anerkennung 
des Landes zu verdienen. 
Zu den Ausführungen Giolittis bemerkt die „Kölnische Zeitung“: 
Das aus dem vorigen Jahr herangezogene Beispiel scheint nicht glücklich 
gewählt. Damals handelte es sich nur um die Anfrage Oesterreich-Ungarns 
an Italien, wie dieses sich verhalten werde, wenn Oesterreich am Ende 
seiner Geduld gegen Serbien vorgehen werde; heute handelte es sich hin- 
gegen um die Anfrage Deutschlands an Italien, wie dieses sich in einem 
deutsch-russischen und einem deutsch-französischen Krieg, in dem noch Eng- 
land an Frankreichs und Rußlands Seite träte, stellen würde. Die beiden 
Fälle sind so grundverschieden, daß nicht einer als vorbildlich für den 
andern gelten kann. 
7. Dezember. Der König empfängt den türkischen Botschafter 
in Privataudienz. 
Der Botschafter erklärt im Namen seiner Regierung, daß der Heilige 
Krieg sich nicht gegen Italien richte und daß das italienische Bürgerrecht 
für die italienischen Untertanen in Libyen von der Türkei anerkannt werde. 
8. Dezember. (Kammer.) Finanzgesetz. Schatzminister Carcano 
legt seine Finanzpläne dar. 
Der Finanzplan 1913/14 weise einen Aktivsaldo von 19 Millionen 
Lire auf. Für das Budget 1914/15 mache der Weltkrieg eine Vermehrung der 
Ausgaben nötig, während die Einnahmen Verminderungen aufwiesen. Die 
Vermehrungen der Ausgaben beträfen fast völlig die militärischen Mini- 
sterien, denen ein Kredit von ungefähr einer Milliarde durch finanzielle
	        
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