Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Zweite Hälfte. (55b)

Bulzarien. (November 1. - 14.) 905 
jüngsten Vergangenheit zu heilen, die nationale Macht wiederherzustellen 
und neue Quellen des Wohlstandes im Lande zu schaffen. Unsere gemein- 
same friedliche Arbeit wurde durch den Ausbruch des größten und schreck- 
lichsten Krieges, den die Geschichte bisher kennt, unterbrochen. Angesichts 
dieses Kampfes zwischen den großen europäischen Nationen war Meine 
Regierung der Ansicht, daß ihre Pflicht gegenüber der Nation und gegen- 
über deren Geschicken in der Zukunft ihr gebiete, die Neutralität genau 
und loyal zu beobachten, wie es den internationalen Erfordernissen und 
Vorschriften, sowie den Interessen des Vaterlandes entspricht. Dank dieser 
Haltung hält die Regierung ihre guten und freundschaftlichen Beziehungen. 
zu allen Großmächten aufrecht und es gelang ihr, unseren Beziehungen zu 
fast allen unseren Nachbarn größeres Vertrauen zu verleihen, das, nach 
der Krise des vergangenen Jahres und inmitten der Ereignisse, die heute 
auf ganz Europa lasten, so notwendig ist. 
1. November. Die Presse veröffentlicht folgendes offiziöse 
Communiqué, betr. die Aufrechterhaltung der Neutralität: 
Der Eintritt der Türkei in den Riesenkampf wird bei allen krieg- 
führenden Mächten eine Neuorientierung der Lage bewirken. Er wird in 
Regierungskreisen nicht als eine Tatsache angesehen, welche das Kabinett 
Radoslawow veranlassen könnte, von der gewissenhaft bisher befolgten Hal- 
tung abzugehen, d. h. von der strengen Beobachtung der Neutralitlät und 
der wachsamen Haltung gegenüber jedem Ereignis, das selbst von weitem 
die bulgarischen Interessen berühren könnte. 
2. November. Rußland der größte Feind des Slawentums. 
Der liberale Politiker Jokin Wladikin schreibt in der „rambana“: 
Die Liberalen haben bloß die Interessen Bulgariens und die Einigung 
aller Bulgaren vor Augen. Sie würden daher auch nötigenfalls gegen 
Rußland kämpfen, falls sich dieses der Einigung der Bulgaren widersetze. 
Rußland habe den Krieg der Balkanstaaten untereinander hervorgerufen. 
Es sei der größte Feind des Slawentums, weil es Polen geknechtet habe 
und heute gegen Oesterreich kämpfe, wo jeder zweite Soldat Slawe sei. 
Rußland handle als Mörder am Slawentum, als Brudermörder. Die 
Peter Paulfestung, Sibirien, Sachalin, die russischen Spione und die 
Schwarzen Hundert erfüllten die Südslawen und die ganze Menschheit 
mit Entsetzen und Ekel. Das russische Regime und Brudermord seien 
Taten, von denen Bulgarien sich mit Abscheu abwende. 
6. November. Der Kriegsminister trifft Verfügungen zur 
stufenweisen Einberufung von sechs Klassen Reserven in drei auf- 
einanderfolgenden Abteilungen für je eine Übungsperiode. 
7. November. (Sobranje.) Der Gesetzentwurf über die 
Verlängerung des Moratoriums bis zum 7. Februar 1915 wird 
angenommen. Der Kriegsminister bringt eine Vorlage über einen 
außerordentlichen Kredit von 33 Millionen Franken zur Deckung 
der Ausgaben für die Armee ein. 
14. November. Bulgarien und Serbien. 
Auf eine Aeußerung des in diplomatischer Mission in Sofia wei- 
lenden früheren serbischen Ministers Marinkowitsch, es wäre feige, 
wenn Bulgarien Serbien heute überfiele, während dieses Krieg führe, er-
	        
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