Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Zweite Hälfte. (55b)

Greßbritannien. (August 3.) 551 
3. August. (Unterhaus.) Sir Edward Grey äußert sich 
über die politische Lage. 
Diese für die Haltung Englands sehr bedeutsame Rede (abgedruckt 
im Anhang zum englischen „Blaubuch“) lautet in ihren wesentlichen Teilen 
folgendermaßen: 
Es ist klar, daß der Friede Europas nicht gewahrt werden kann. Ich 
bitte das Haus, die Frage des Friedensbruchs vom Gesichtspunkt der bri- 
tischen Interessen, Ehre und Verpflichtungen und frei von Leidenschaft ins 
Auge zu fassen. Wenn die Dokumente veröffentlicht wären, würde es sich 
zeigen, wie aufrichtig und mit vollem Herzen England bestrebt war, den 
Frieden zu bewahren. Was unsere Verpflichtungen angeht, so haben wir 
bis gestern nichts mehr als diplomatische Unterstützung versprochen. Ich 
bin zur Zeit der Algeciras-Konferenz gefragt worden, ob England bewaff- 
nete Unterstützung geben würde. Ich habe gesagt, ich könne keiner fremden 
Macht etwas versprechen, was nicht von vollem Herzen die Unterstützung 
der öffentlichen Meinung erhielte. Ich habe kein Versprechen gegeben, aber 
sowohl dem französischen wie auch dem deutschen Botschafter erklärt, daß, 
wenn Frankreich der Krieg aufgezwungen würde, die öffentliche Meinung 
auf Frankreichs Seite treten würde. Ich habe in den französischen Vor- 
schlag einer Besprechung militärischer und seemännischer Sachverständiger 
Englands und Frankreichs eingewilligt, da England sonst nicht in der 
Lage sein würde, im Falle einer plötzlich eintretenden Krisis Frankreich 
Beistand zu gewähren, wenn es ihn gewähren wollte. Ich habe meine Er- 
mächtigung zu jenen Besprechungen gegeben, jedoch unter der ausdrück- 
lichen Voraussetzung, daß nichts, was zwischen den militärischen und 
seemännischen Sachverständigen vor sich gehen würde, eine der beiden Re- 
gierungen bindet oder ihre Entschlußfreiheit beschränkt. Während der 
Marokko-Krisis von 1911 hat meine Politik sich auf genau der gleichen 
Linie bewegt. Im Jahre 1912 ist beschlossen worden, daß England eine 
bestimmte schriftliche Verständigung haben solle des Inhalts, daß jene Be- 
sprechungen die Freiheit der Regierung nicht bänden. Grey verliest darauf 
den Brief, den er am 22. November 1912 an den französischen Botschafter 
Paul Cambon gerichtet hat (siehe S. 408 f.). [Der Schlußsatz des Briefes: 
„Wenn diese Maßregeln ein militärisches Vorgehen mit sich brächten, so 
würden sowohl die Pläne der Generalstäbe sogleich in Erwägung ge- 
zogen werden, wie auch die beiden Regierungen dann sofort sich über die 
Folgerung schlüssig würden, die ihnen zu geben notwendig wäre“ ist laut 
dem englischen Blaubuch nicht von Grey verlesen worden.] 
Dies ist der Ausgangspunkt für die britische Regierung mit bezug 
auf die gegenwärtige Krisis. Ich denke, der Brief beweist klar, daß wir 
vollkommene Freiheit haben, darüber zu entscheiden, ob wir in einer Krisis 
eingreifen oder ob wir uns abseits halten sollen. Unsere Regierung hat 
ihre volle Freiheit behalten und ebenso a fortiori das Unterhaus. Die Lage 
ist in dieser Krisis nicht vollkommen dieselbe wie in der Marokkokrisis. 
Damals handelte es sich um einen Streitfall, der Frankreich vor allem 
anging, um einen Streitfall, bei dem wir durch einen öffentlich bekannt- 
gegebenen Vertrag verpflichtet waren, diplomatisch mit Frankreich gemein- 
same Sache zu machen. Die gegenwärtige Krisis hat eine ganz andere 
Ursache. Sie entstand nicht durch ein besonderes Abkommen, welches wir 
mit Frankreich haben. Ihr Ursprung hat überhaupt nichts mit Frankreich 
zu tun. Ihre erste Ursache war ein Streit zwischen Oesterreich und Serbien. 
Keine Regierung und kein Land hat weniger gewünscht, in den österreichisch- 
serbischen Streit verwickelt zu werden als Frankreich. Es ist ehrenhalber
	        
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