Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Zweite Hälfte. (55b)

552 Greßbritaunien. (August 3.) 
auf Grund eines bestimmten Bündnisses mit Rußland darein verwickelt 
worden. Es ist nur billig, hier festzustellen, daß eine solche Ehrenverpflich- 
tung für uns in gleicher Weise nicht besteht. Wir haben keinen Anteil an 
dem französisch-russischen Bündnis. Wir kennen nicht einmal die Bedingungen 
dieses Bündnisses. 
Ich komme nunmehr zur Frage, was die Lage von uns fordert. 
Seit vielen Jahren haben wir ein sehr nahes freundschaftliches Verhältnis 
mit Frankreich gehabt. Aber wie weit diese Freundschaft Verpflichtungen 
mit sich bringt — es war ein Freundschaftsverhältnis zwischen den Völkern 
und von ihnen gutgeheißen —, wie weit dies eine Verpflichtung mit sich 
bringt, darüber möge jedermann sein eigenes Herz und seine Empfindungen 
zu Rate ziehen und das Maß der Verpflichtungen abschätzen. 
Die französische Flotte ist gegenwärtig im Mitttelländischen Meer 
und die nördliche und westliche Küste Frankreichs sind vollkommen unver- 
teidigt. So stellt sich die Lage ganz anders dar, als sie früher war; denn 
die Freundschaft, die zwischen den beiden Ländern besteht, hat Frankreich 
das Gefühl der Sicherheit gegeben, daß von unserer Seite nichts zu fürchten 
ist. Meine eigene Empfindung geht dahin, daß wir, wenn eine fremde 
Flotte, in einem Krieg begriffen, den Frankreich nicht gesucht hat, und bei 
dem es nicht der Angreifer gewesen ist, den Englischen Kanal herunter- 
führe und die unverteidigten Küsten Frankreichs bombardierte, nicht abseits 
stehen und dies gewissermaßen vor unsern Augen sich abspielen sehen 
könnten mit verschränkten Armen und ohne etwas dagegen zu tun. Ich 
glaube, daß dies die Empfindung unseres Landes sein würde. Es gibt 
Zeiten, wo man fühlt, daß, wenn derartige Umstände eintreten, dieses Emp- 
finden mit unwiderstehlicher Gewalt sich über das ganze Land ausbreiten würde. 
Doch ich wünsche die Dinge ohne Sentimentalität vom Standpunkt 
britischer Interessen zu betrachten. Wenn wir in diesem Augenblicke stille 
halten, was soll dann Frankreich mit seiner Flotte im Mittelländischen 
Meere tun? Läßt es sie dort ohne jede Erklärung von unserer Seite, was. 
wir zu tun gedenken, so überläßt es seine Nord- und Westküste vollständig 
unverteidigt der Gnade einer deutschen Flotte, die den Kanal herunter- 
käme und nach Belieben verführe in einem Krieg, der zwischen diesen 
beiden Ländern ein Krieg auf Leben und Tod ist. Wenn wir stillschweigen, 
so kann es auch sein, daß die französische Flotte aus dem Mittelländischen 
Meer zurückgerufen wird. Wir stehen einer europäischen Feuersbrunst 
gegenüber. Ist irgend jemand imstande, ihre Grenzen und ihre Folgen zu 
bestimmen? Nehmen wir an, wir stellen uns heute abseits in neutraler 
Haltung und sagen: „Nein, wir können keine Verpflichtung übernehmen, 
einer der streitenden Parteien zu helfen.“ Nehmen wir an, die französische 
Flotte sei aus dem Mittelländischen Meer zurückgezogen, und nehmen wir 
an, daß die Folgen, die heute schon selbst für die Länder, die noch im 
Frieden leben, fürchterlich sind — sie sind in Wirklichkeit die gleichen, ob 
die Länder im Frieden oder im Krieg sind — unvorhergesehen in ihrer 
weiteren Entwicklung es plötzlich nötig machen, daß wir zur Verteidigung 
britischer Lebensinteressen Krieg führen müssen, nehmen wir ferner an, 
was durchaus möglich ist, daß Italien, das jetzt neutral ist, weil es den 
gegenwärtigen Krieg als einen Angriffskrieg ansieht, während der Drei- 
bund Verpflichtungen nur im Falle eines Verteidigungskrieges auferlegt, 
durch unvorhergesehene Folgen gezwungen würde, in durchaus berechtigter 
Berücksichtigung seiner Interessen von seiner neutralen Haltung abzugehen 
zu einer Zeit, in der wir gezwungen sind, für die Verteidigung britischer 
Lebensinteressen selbst in den Kampf zu ziehen — wie würde dann die 
Lage im Mittelländischen Meer werden? Es könnte sehr wohl sein, daß
	        
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