Anbans II. Diplomstische Enthüllungen. (Januar 16.—Juli 2.) 1069
Staatsmann kann wohl für die Finanzen seines Landes gefährlich werden;
er kann ungesunde und im Interesse der inneren Politik Frankreichs be-
dauerliche Spaltungen hervorrufen, aber seine Beteiligung an der Regie-
rung wird, meiner Meinung nach, die internationalen Reibungsflächen ver-
ringern und eine bessere Grundlage für die deutsch-französischen Bezieh-
ungen bilden.
Nr. 111. Baron Beyens, Gesandter Belgiens in Berlin, an Herrn
Davignon, Minister des Aeußeren. Berlin, den 20. Februar 1914. Herr
Minister! Das deutsch-französische Abkommen über Kleinasien,
das ganz kürzlich nach schwierigen Verhandlungen und dank dem perfön-
lichen Eingreifen des Kanzlers in Berlin abgeschlossen worden ist, sichert
Frankreich eine beträchtliche Betätigungs= und Einflußsphäre in Syrien.
Es wird eine Eisenbahnlinie von Beirut aus, jenseits des Antilibanons,
bis nach Aleppo, dem Vereinigungspunkt mit den deutschen Linien, hinauf-
führen können. Eine andere französische Linie soll, ebenfalls von Beirut
ausgehend, über Homs den Euphrat in Richtung des 35. Parallelkreises
erreichen.. Die Küste des Mittelländischen Meeres zwischen Alexandrette
und Beirut soll neutralisiert werden; weder als Küstenbahn noch als Bahn
zur Durchquerung des Antilibanon werden Deutschland oder Frankreich
dort eine Eisenbahn bauen dürfen.... Die Schwierigkeit der Verhand-
lungen lag hauptsächlich in der genauen Abgrenzung der französischen und
deutschen Einflußzone (60 km beiderseits der Bahnlinie), um zu vermeiden,
daß sie gegenseitig ineinander übergreifen. Frankreich behält außerdem die
Eisenbahnkonzessionen, die es von der Türkei in dem reichen Minengebiet
des alten Kappadozien an der Küste des Schwarzen Meeres erlangt hat,
und die sehr gewinnbringende Bahn von Smyrna nach Kassabte
Anstatt sich mit der immerhin noch beträchtlichen Ernte zufrieden zu geben,
die die französische Finanz, von ihrem Botschafter gut darin unterstützt,
einzuheimsen imstande gewesen ist, ergeht sich ein Teil der Pariser Presse
heute in abfälligen Kritiken des neuen Abkommens und seiner Unterhändler.
An der Spitze der Unzufriedenen befindet sich wieder der politische Re-
dakteur des „Temps“, Herr Tardien, der keinerlei Gelegenheit versäumt,
die deutsche Politik und diejenigen anzugreifen, die es versuchen, auf wirt-
schaftlichem Gebiete eine Annäherung zwischen den beiden benachbarten
VBölkern herbeizuführen.
Ich fragte den Botschafter, ob das Einvernehmen in Kleinasien, das,
wie ich Ihnen zu berichten die Ehre hatte, vom Kaiser sehr gewünscht
worden ist, seiner Meinung nach dazu beitragen werde, die deutsch-franzö-
sischen Beziehungen zu bessern. „Vielleicht in einem gewissen Grade die
offiziellen Beziehungen“, antwortete mir Herr Cambon, „aber ich glaube
nicht, daß dieses Abkommen auf die Gefühle des großen Publikums beider-
seits der Vogesen von Einfluß sein wird. Die Sprache der französischen
Presse den Deutschen gegenüber wird dadurch leider keine Aenderung er-
fahren. Wir haben seit der Dreyfusaffäre auch in Frankreich
eine militaristische und nationalistische Partei, die um keinen
Preis etwas von einer Annäherung an Deutschland wissen
will und die einen großen Teil der Zeitungen in ihrem ag-
gressiven Tone bestärkt. Die Regierung müßte mit ihnen und
der Partei, deren Sprachrohr sie sind, rechnen, falls sich wieder-
um ein ernster Zwischenfall zwischen den beiden Völkern er-
eignen sollte. Unbestreitbar wünscht die Mehrzahl der Deutschen und
Franzosen in Frieden zu leben. Aber in beiden Ländern träumt eine
mächtige Minorität nur von Schlachten und Eroberungs= oder Revanche-
kämpfen. Darin liegt die Gefahr, neben der man wie neben einem Pulver-