Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Zweite Hälfte. (55b)

1086 Auhang III. Allgemeines. (Januar 4. — Mai 6.) 
köpfe oder gewissenloser Ränkeschmiede irreleiten lasse. Der Kaiser und sein 
Generalstabschef beharrten indes bei ihrer Ansicht. 
Während des Gesprächs machte der Kaiser einen ausgeregten und 
gereizten Eindruck. Mit den Jahren gewinnen die Ueberlieferungen seines 
Geschlechtes, der rückschrittliche Geist seines Hofes und namentlich die Un- 
geduld der Kriegsmänner mehr Einfluß auf seine Denkart. Vielleicht in 
er etwas eifersüchtig auf die Volkstümlichkeit seines Sohnes, der den Leiden- 
schaften der Alldeutschen schmeichelt und die Stellung des Reiches in der 
Welt nicht mit dessen Stärke übereinstimmend findet. Vielleicht hat die Er- 
widerung Frankreichs auf die jüngsten Verstärkungen des deutschen Heeres, 
welche die militärische Ueberlegenheit Deutschlands über jeden Zweifel er- 
heben sollte, bis zu einem gewissen Maße zu der Bitterkeit beigetragen, denn, 
was man auch behaupten möge, man fühlt hier, daß die Deutschen nicht 
viel mehr zu leisten vermögen. 
Die Frage liegt nahe, was hinter diesem Gespräch zu suchen ist. 
Möglich ist, daß der Kaiser und sein Generalstabschef dem König der Bel- 
gier Achtung gebieten und ihn dadurch geneigter machen wollten, daß er 
sich im Falle eines Krieges einem Durchmarsch der Deutschen nicht wider- 
setzte. Vielleicht auch wollten sie die Belgier weniger feindlich stimmen im 
Hinblick auf einen gewissen Ehrgeiz, den man hier wegen Belgisch-Kongo 
hegt. Allein, im letzten Falle begreife ich nicht, warum der General v. Moltke 
der Unterredung beiwohnen mußte. Im übrigen beherrschte der Kaiser seine 
Ungeduld, weniger als man allgemein annimmt. Mehr als einmal habe ich 
gehört, wie er seinen innersten Gedanken Ausdruck gab. Allein, welches 
auch der Zweck der Unterredung gewesen sein mag, die mir hinterbracht 
wurde, so bildet diese doch eine ernste Tatsache. Sie stimmt mit der kri- 
tischen Art der allgemeinen Lage und mit der Verfassung der Gemüter in 
einem Teile Frankreichs und Deutschlands überein. Wenn ich eine Schluß- 
solgerung ziehen sollte, würde ich sagen, es sei angezeigt, damit zu rechnen, 
daß sich der Kaiser mit einem Gedankengang vertraut zu machen beginnt, 
dem er früher abgeneigt war, und — um einen vom Keiser selbst beliebten 
Ausdruck zu gebrauchen —: „Wir müssen unser Pulver trocken halten.“ 
Anhang IIlI. 
Allgemeines. Internationale Kongresse. 
4. Januar. (Berlin.) 25jähriges Jubiläum der Internatio- 
nalen kriminalistischen Vereinigung. 
19. Januar. (London.) Schlußsitzung der Internationalen 
Konferenz für die Sicherheit des Lebens auf dem Meere. 
Es wird eine 74 Artikel umfassende Konvention, die wichtige Schus- 
bestimmungen festsetzt, unterzeichnet. Sie soll am 1. Juli 1915 in Kraft 
treten. Der Wortlaut ist im „Deutschen Reichsanzeiger“ vom 15. März 
1914 veröffentlicht. 
20. Februar. (Kiel.) Eröffnung des der Universität angeglie- 
derten Instituts für Seeverkehr und Weltwirtschaft. 
6. Mai. (Leipzig.) Eröffnung der Internationalen Aus- 
stellung für Buchgewerbe und Graphik.
	        
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