Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Zweite Hälfte. (55b)

Nebersicht über die politische Entwichlung des Jahres 1914. 1093 
König Eduard auf diplomatischem Wege, gleichsam automatisch durch 
eine günstige Konstellation der politischen Kräfte, die Deutschlands 
militärische Macht von vorneherein lahmlegte, zu erreichen gehofft. 
Es besteht große Wahrscheinlichkeit, daß die Staatsmänner, die das 
Erbe des Schöpfers der Einkreisungspolitik verwalteten, sich von 
den gleichen Erwägungen und Erwartungen leiten ließen, und daß 
sie sich noch immer eine Handlungs= und Bewegungsfreiheit vor- 
täuschten, die sie freilich in Wahrheit längst eingebüßt hatten. Die 
Einführung offizieller Besprechungen, wie sie Grey seit dem Winter 
1914 mit dem russischen und dem französischen Botschafter abhielt, 
diente unverkennbar dem Ziele, den britischen Einfluß als richtung- 
gebend für die Politik der Tripleentente durchzusetzen. Durch eine 
derartige Auffassung wird Englands Schuld an dem Weltkrieg nicht 
verringert, vielmehr nur vergrößert, weil es sich erweisen läßt, wie 
noch darzulegen ist (S. 1124 ff.), daß erst die im entscheidenden Augen- 
blick gewährte Gewißheit, England werde Frankreich militärisch 
unterstützen, der Kriegspartei in Petersburg Oberwasser verschafft hat. 
Den Kriegshetzern an der Newa und an der Seine war die zwei- 
deutige Haltung des britischen Kabinetts fortgesetzt ein Gegenstand 
unverhohlenen Mißvergnügens und lebhafter Besorgnis. Für die 
geringen Erfolge der Dreiverbandsdiplomaten bei dem Austrage 
der Balkanfrage im Jahre 1913 glaubte man in jenen Kreisen 
geradezu die durch Englands Beiseitestehen verminderte Aktions- 
fähigkeit der Tripleentente verantwortlich machen zu dürfen. Die 
Umbildung der Entente in ein festgefügtes Bündnis nach umbildung 
Art des Dreibundes wurde demgemäß von den chauvinistischender enten 
Politikern als eine unerläßliche Voraussetzung für ein wirksameres 
Zusammenarbeiten proklamiert und für eine Realisierung dieser 
Forderung alle verfügbaren Kräfte der Diplomatie und der Presse 
nachdrücklichst eingesetzt. Die Feststimmung anläßlich des Staats- 
besuches des englischen Königspaares in Paris im April 1914 
(S. 652 ff.) schien für die Einleitung diesbezüglicher Verhandlungen 
günstige Bedingungen zu schaffen. Ein halbamtlicher Artikel der 
Petersburger „Weschtjerna Wremja“ vom 9. April, der von der 
Havasagentur sogleich geschäftig verbreitet wurde, gab zuerst von 
diesen Umgestaltungsplänen der Offentlichkeit Kunde (S. 650 f., 818).
	        
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