Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Zweite Hälfte. (55b)

1096 Nebersicht über die politische Eutwiczlung des Jahres 1914. 
geforderten bundesmäßigen Zusammenschlusses und die davon 
erwartete Erhöhung der militärischen Schlagkraft war somit dank 
dem Entgegenkommen der britischen Regierung in der ersten Jahres- 
hälfte wesentlich gefördert worden. 
Durch dieses planmäßig vorbereitete englisch-russische Ab- 
kommen gewannen die bereits seit längerer Zeit bestehenden Ab- 
machungen zwischen England und Frankreich und Rußland 
und Frankreich erst ihre volle Bedeutung und höchste Wirkungs- 
Enguisch- kraft. Das zehnjährige Jubiläum des englisch-fran zösischen 
lwanonsches Einvernehmens wurde durch den Staatsbesuch des englischen 
vernehmen. Königspaares in Paris mit dem ganzen, bei solchen Anlässen 
üblichen Aufwand an nichtssagenden oder vieldeutigen Frcundschafts- 
und Friedensbeteuerungen gefeiert. Die Erwartung der Pariser 
Chauvinisten, bei dieser Gelegenheit von den Lippen des englischen 
Königs das heißersehnte Wort Alliance zu hören, ging freilich nicht 
in Erfüllung; aber über die durchaus deutschfeindliche Tendenz der 
englisch-französischen Verbrüderung bestand nicht der geringste 
Zweifel. „Da sie nicht geradheraus „Nieder mit Deutschland“ 
schreien können, geben sie ihren Hochrufen auf England diese Be- 
deutung“, schrieb die sozialistische „Humanité“ in jenen Tagen 
(S. 653). Der wahre Charakter der anscheinend nur Friedenszwecken 
dienenden Entente tritt erst in die rechte Beleuchtung, wenn man 
sich der Briefe erinnert, die am 22.23. November 1912 zwischen 
Grey und dem französischen Botschafter in London Paul Cambon 
ausgetauscht wurden (S. 408 f.). In die Floskeln diplomatischer 
Geheimsprache sorgsam verhüllt, enthielten sie nichts Geringeres 
als das bindende Versprechen Englands, Frankreich im Kriegsfalle 
Waffenhilfe zu leisten. Mit diesem Schriftstück, schrieb der Diplomat, 
der im Mai 1913 der deutschen Regierung den Wortlaut jener 
geheimen Abmachung mitteilte, hatte sich „England de facto dem 
französischen Revanchegedanken bereits rettungslos verschrieben“ 
(S. 408). Von seiten der französischen Regierung ist diese englische 
Zusicherung auch tatsächlich so aufgefaßt und dementsprechend in 
das politische Kalkül eingesetzt worden. Die durchaus reale Natur 
der englisch-französischen Abmachungen erhellt übrigens auch aus 
der Einrichtung so überaus praktischen Zielen dienenden Ver-
	        
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