Englands
Kriegs-
vorwand.
1132 Hebersicht über die politische Entwichlung des Jahres 1914.
sammenfaßte, daß England in einem Balkanstreite und in einem
Kampfe um das üÜbergewicht zwischen Germanentum und Slawen-
tum sich nicht beteiligen würde; „sollten aber andere Möglichkeiten
hervortreten und Frankreich mit hineinverwickelt werden, so dasß
die Frage zu einer solchen nach der Vorherrschaft in Eu-
ropa würde, dann würde England sich entscheiden, was zu
tun notwendig sei.“ Die dentsche Regierung war sich von vorn-
herein darüber im klaren, daß England der Vernichtung der Groß-
machtstellung Frankreichs niemals ruhig zusehen würde; doch glaubte
sie bei einem künftigen deutsch-russischen Kriege, der Frankreich gemäß
seiner Bündnispflicht an die Seite Rußlands rufen würde, auf die
Neutralität Großbritanniens zählen zu dürfen, wenn sie schon
jetzt im Falle eines siegreichen Ausganges auf jeden Landerwerb
auf Kosten des europäischen Besitzstandes Frankreichs Verzicht leistete.
Ein Versuch der Reichsregierung, auf dieser Grundlage mit Eng-
land ein Neutralitätsabkommen abzuschließen, erfuhr in London
entrüstete Ablehnung. Es würde, erklärte Grey am 30. Juli,
eine Schande für uns sein, auf Kosten Frankreichs diesen Handel
mit Deutschland zu machen, eine Schande, von der der gute Name
unseres Landes niemals gereinigt werden könnte. „Wir müssen
unsere völlige Freiheit bewahren, um zu handeln, wie die Umstände
es uns zu erfordern scheinen.“ Wie es in Wahrheit um diese
Handlungsweise des britischen Kabinetts bestellt war, beweist der
Briefwechsel vom November 1912, den Paul Cambon am gleichen
Tage Grey präsentierte, und der England im Falle eines deutschen
Angriffes zur Unterstützung Frankreichs verpflichtete. Das Vor-
handensein einer derartigen Verpflichtung war vor dem Parlamente
freilich bisher stets in Abrede gestellt worden. Sollte also die Politik
der Regierung von der öffentlichen Meinung, die England an dem
bestehenden Konflikte noch nicht unmittelbar beteiligt glaubte, ge-
billigt und unterstützt werden, so bedurfte es eines Kriegsgrundes,
der unmittelbar mit britischen Lebensinteressen im Zusammenhange
stand und die Intervention Englands ohne weiteres rechtfertigte.
Und diesen Kriegsgrund hatte Grey bereits in der Frage der
belgischen Neutralität gefunden. Sogleich nach dem Bekannt-
werden der russischen Mobilmachung richtete der Staatssekretär an