Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Zweite Hälfte. (55b)

Uebersicht über die politische Entwichlung des Jahres 1914. 1135 
völlig andern Ton waren dagegen die Ausführungen des Premier- 
ministers Asquith im Unterhause am 6. August gestimmt (S. 557 ff.), 
nachdem am 4. August Englands Kriegserklärung an Deutschland Englands 
erfolgt war (S. 387). Hier findet sich nicht nur die bewußte Un- 
wahrheit, Deutschland habe von England freie Hand gefordert, im Leurschland. 
Falle eines erfolgreichen Krieges alle außereuropäischen Besitzungen 
Frankreichs zu annektieren, sondern es wird auch die angebliche 
Aufgabe Englands, für die Aufrechterhaltung der belgischen Neu- 
tralität, für die Verteidigung der durch brutale Gewalt gefähr- 
deten kleinen Nationen einzutreten, in den Vordergrund gerückt, 
während die bindende Verpflichtung Englands gegenüber Frankreich 
völlig mit Stillschweigen übergangen wird. Ja, Asquith erkühnte 
sich sogar zu behaupten, er glaube nicht, „daß jemals eine Nation 
in einen großen Streit mit einem reineren Gewissen und stärkerer 
überzeugung eingetreten ist, daß sie nicht um anzugreifen kämpft, 
nicht einmal um ihre eigenen egoistischen Interessen zu wahren. 
sondern für die Verteidigung von Grundsätzen, deren Aufrechterhal- 
tung ein Lebensinteresse für die Zivilisation der Welt ist“. Dank 
dieser dreisten Verdrehung einwandfrei feststehender Tatsachen gelang 
es der englischen Regierung, das eigene Land und die willig der 
englischen Führung sich hingebenden Neutralen über die wahren 
Beweggründe der englischen Kriegserklärung hinwegzutäuschen und 
Englands Vorgehen mit einem Tugendnimbus zu umkkleiden, der 
von der nüchternen Ehrlichkeit Deutschlands wirkungsvoll abstach. 
In Wahrheit hat sich die englische Regierung weder Belgien noch 
Frankreich zuliebe, deren Integrität im Falle der englischen Neutra- 
lität durch die bestimmtesten Zusicherungen Deutschlands voll- 
ständig verbürgt war, zum Kriege entschlossen, sondern um lang- 
gehegte, durchaus egoistische machtpolitische Pläne zu verwirklichen. 
Durch ein sofortiges Eingreifen hoffte sie nicht nur, jeden Kräfte- 
zuwachs Deutschlands von vornherein zu vereiteln, sondern zugleich 
mit möglichst geringem Risiko die „deutsche Gefahr“ für England 
gänzlich zu beseitigen und den verhaßten Konkurrenten auf dem 
Weltmarkte ein für allemal aus dem Wege zu schaffen. Zu diesem 
brutalen Kriegsziele hat man sich auch in England längst ungescheut 
bekannt, wenn man auch offiziell an der gutkleidenden Beschützer-
	        
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