Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Zweite Hälfte. (55b)

Nebersicht über die politische Eutwichlung bes Jahres 1914. 1141 
Kriegsbeginn mit den offensichtlich vorhandenen Mängeln seiner 
militärischen Rüstung, mit der Furcht vor der seebeherrschenden 
englischen Flotte, mit seiner bedenklichen finanziellen und inner- 
politischen Lage, mit den Rücksichten auf die österreichfeindliche 
Strömung in der öffentlichen Meinung noch in etwas entschuldigen, 
so durften die im schwersten Kampfe stehenden Kaisermächte, die 
auch weiterhin gerne bereit waren, allen berechtigten Interessen 
Italiens nach Möglichkeit Rechnung zu tragen — am 25. August 
gaben sie ihre vorbehaltlose Zustimmung zu der italienischen Inter- 
pretation des Artikels VII des Dreibundvertrages —, auf jeden Fall 
von ihrem Bundesgenossen die dauernde Aufrechterhaltung einer 
loyalen Neutralität erwarten. Es unterliegt aber heute keinem Zweifel 
mehr, daß Italiens Abschwenken in das feindliche Lager bereits in 
den Tagen der europäischen Krise einsetzte und nur die Ungewißheit 
über den Ausgang des Kampfes es daran hinderte, seine Politik 
schon jetzt entscheidend festzulegen. Bereits die warmen Worte, mit 
denen der französische Ministerpräsident Viviani am 4. August die 
vom italienischen Geschäftsträger abgegebene Neutralitätserklärung 
beantwortete, er schätze sich glücklich, daß die zwei lateinischen 
Schwestern, welche dieselbe Abstammung, dieselben Ideale und eine 
gemeinsame ruhmreiche Vergangenheit haben, sich nicht feindlich 
gegenüberstehen (S. 684), bekundeten eine Innigkeit der Beziehungen, 
deren wahrer Charakter durch die Tatsache ins rechte Licht gerückt 
wird, daß bereits seit dem 1. August die italienischen Truppen von 
der französischen Grenze zurückgezogen waren und Frankreich somit 
über eine beträchtlich verstärkte Truppenmasse sofort frei verfügen 
konnte. Die Haltung der Regierung erwies sich der immer maßloser 
sich gebärdenden nationalistischen Hetzpropaganda gegenüber als 
überaus schwächlich und zweideutig. Überdies verlor Italien in 
dem Marchese di San Giuliano den bewährten Leiter seiner aus- 
wärtigen Angelegenheiten (S. 726), der für die Aufrechterhaltung 
der Neutralitätspolitik eine verhältnismäßig sichere Bürgschaft bot, 
während seine Nachfolger Salandra und Sonnino von Anfang an 
einem moralinfreien Opportunismus, für den Salandra die glück- 
liche Prägung Csacro egoismo“ erfand, sich bedingungslos über- 
antworteten. Salandras Kammerrede vom 3. Dezember (S. 730 ff.),
	        
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