Mebersicht über die politische Entwichlung des Jahres 1914. 1179
von der Regierung geplante durchgreifende Steuerreform, die ins-
besondere die Einführung einer progressiven Einkommensteuer vor-
sah, begegnete in der Abgeordnetenkammer den größten Schwierig-
keiten. Am 2. Juni wurde durch die Annahme eines sogenannten
Steueromnibus wenigstens eine Einigung dahin erzielt, daß die
wichtigsten Reformen provisorisch bis zum 30. Juni 1915 in
Kraft gesetzt wurden (S. 717 f.). Vor allem die militärischen
Ausgaben bedeuteten für das Budget eine starke Belastung. Die
Kosten für den libyschen Feldzug in einer Höhe von über einer
Milliarde Lire wurden nach heftigen Auseinandersetzungen mit den
Sozialisten von der Kammer am 7. März bewilligt (S. 709). Dieses
Ergebnis beantworteten die Linksradikalen mit dem Protestbeschluß,
dem Ministerium Giolitti, in dem sich die imperialistische Politik
der letzten Jahre gleichsam verkörperte, fortan das Vertrauen zu
verweigern. Damit war das Schicksal des verdienstvollen Kabinetts
besiegelt (S. 709). Es wurde durch das ausschließlich aus Ver-
tretern der großen liberalen Partei zusammengesetzte Kabinett
Salandra ersetzt. An außerordentlichen Heereskrediten forderte
Ministerpräsident Salandra am 2. April 200 Millionen Lire (S. 711),
um die durch den libyschen Krieg erschöpften Materialbestände wenig-
stens notdürftig wieder aufzufüllen. Nach dem Ausbruch des Welt-
krieges traten in der militärischen Rüstung so gewaltige Mißstände
zutage, daß eine gründliche Reorganisation sich notwendig erwies,
ehe eine kriegerische Aktion gewagt werden konnte. Der Widerstreit
zwischen den Forderungen des Generalstabs und den Bedenken des
Finanzministers führte am 8. Oktober den Rücktritt des Kriegs-
ministers Grandi und am 31. Oktober den Rücktritt des Kabinetts
Salandra herbei (S. 726, 728). Das neue, aus Angehörigen aller
konstitutionellen Gruppen gebildete Ministerium bewilligte am
15. November außerordentliche Kriegskredite im Gesamtbetrage
von 750 Millionen Lire und am 22. November außerordentliche
Marinekredite im Betrage von 200 Millionen Lire (S. 728 f.).
Infolge dieser umfänglichen Leistungen für militärische Zwecke be-
stand für die Regierung nur geringe Möglichkeit, die großen sozial-
politischen Aufgaben in Angriff zu nehmen, deren Lösung angesichts
der immer bedrohlicher um sich greifenden sozialistischen Umsturz-