Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Zweite Hälfte. (55b)

1180 Aebersicht über die politische Eutwichlung des Jahres 1914. 
bewegung sich nachgerade als eine unaufschiebbare Notwendigkeit 
erwies. Daraus erklärt sich ein höchst bedenklicher innerer Span- 
nungszustand, der sich in zahlreichen Unruhen und Streiks mit 
teilweise ausgesprochen revolutionärem Charakter — im Juni wurde 
in der Romagna sogar die Republik ausgerufen — Luft machte. Das 
Kabinett Salandra vermochte seinem Programm, die berechtigten 
Forderungen der Linken zu erfüllen, aber alle radikalen Umtriebe 
mit starker Hand niederzuhalten, nicht entfernt gerecht zu werden. 
Immerhin sicherte ihm diese Politik der nationalen Sammlung 
die Unterstützung der Ordnungsparteien und das Vertrauen des 
Neutralitäts-Landes. Die Neutralitätserklärung der Regierung (s. oben S. 1140f.) 
erklädrung. 
Römische 
Kurie. 
entsprach durchaus dem Empfinden und den Wünschen der ruhe- 
bedürftigen Allgemeinheit; nur in den kleinen, aber durch eine 
geschickt geleitete Agitation rasch an Einfluß gewinnenden Kreisen 
der Nationalisten und Republikaner bestand von Anfang an Nei- 
gung für ein Zusammengehen mit dem Dreiverbande. Hätte die 
Regierung den moralischen Mut besessen, die Neutralität loyal 
aufrechtzuerhalten und jeder Vergiftung der öffentlichen Meinung 
aufs nachdrücklichste zu begegnen, so hätte sie gewiß eine Mehrheit 
um sich scharen können, die den Ansturm der radikalen Kriegshetzer 
erfolgreich abgewehrt hätte. An privaten Bestrebungen zur Samm- 
lung der Friedensfreunde hat es auch nicht gefehlt. Aber in Wirk- 
lichkeit stand die Regierung selbst im Banne des ungesunden Natio- 
nalismus, der seit dem siegreichen libyschen Feldzuge so üppig ins 
Kraut geschossen war, und ließ sich willig von der trüben Flut 
der künstlich erregten öffentlichen Meinung treiben. Durch weitere 
glänzende Erfolge in der Außenpolitik hoffte sie, am leichtesten der 
Schwierigkeiten der innerpolitischen Lage Herr zu werden und das 
schwankende Königtum neu zu festigen. So erwuchs auch in Italien 
die militaristische Politik letzten Endes auf dem Boden unhaltbarer 
innerpolitischer Zustände. 
Die katholische Christenheit verlor am 20. August ihr Ober- 
haupt (S.740). Pius X. besaß nicht die kühle politische Klugheit 
und den scharfen Wirklichkeitsblick seines Vorgängers, und der apo- 
stolische Eifer, mit dem er für die Durchführung seiner hohepriester- 
lichen Aufgabe, des omnia instaurare in Christo, eintrat, ver-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.